Formel-E-Testfahrer Treluyer schwärmt nach Fahrt im Gen3-Auto: "Ein wirklich leistungsstarkes Fahrzeug"
Timo Pape
Ende November präsentierten Formel E und FIA einem ausgewählten Teilnehmerkreis aus Wettbewerbern und Partnern das neue Gen3-Fahrzeug, das ab Saison 9 zum Einsatz kommen wird. Gleichzeitig veröffentliche die Elektroserie erste Teaserbilder. Indes organisierte Fahrzeughersteller Spark seit Ende September mehrere Testfahrten. Formel-E-Entwicklungsfahrer Benoit Treluyer zeigt sich begeistert vom neuen E-Rennwagen.
Der ehemalige Audi-Werksfahrer unterstützt die Formel E schon länger bei der Entwicklungsarbeit. Zudem absolvierte Treluyer im Anschluss an den Marrakesch E-Prix 2019 den offiziellen Rookie-Test für das Virgin-Team. Vergleichsmöglichkeiten zwischen dem aktuellen Gen2-Auto (2018-22) und dem künftigen Gen3-Fahrzeug, das erstmals in der Saison 2022/23 an den Start rollen wird, hat er somit ausreichend. Das Fahrverhalten bewertet er gegenüber 'The Race' generell sehr gut.
Treluyer testete zunächst in einem Fahrzeug ohne Karosserie, dann im November noch einmal mit Verkleidung im spanischen Monteblanco. Dabei sollte der Franzose das Fahrzeug "hart rannehmen" und aggressiv über die Randsteine fahren, um die Haltbarkeit zu testen. "Das Auto scheint sehr stabil zu sein, denn wir waren nicht gerade nett zu ihm." Alles in allem scheint das Gen3-Fahrzeug deutlich besser für Straßenkurse geeignet zu sein als das doch recht klobige aktuelle Auto.
Dabei hat sich Spark die häufige Kritik an den Fahrstandards in der Formel E zu Herzen genommen. Weil die Front des Gen2-Autos kontaktfreudige Duelle erlaubt, und Schäden derzeit kaum Auswirkungen auf die Performance eines Autos haben, entwickelten sich manche Rennen in den vergangenen drei Jahren zu Crash-Festivals. Künftig soll das Auto rüpelhaftes Fahren mehr bestrafen. "Ich bin einmal mit Karosserie gefahren, einmal ohne, und die Verkleidung hat einen großen Einfluss auf die Aerodynamik und die Balance", so Treluyer.
Leistungssprung & Drehmoment stellen Fahrer vor neue Herausforderung
Bei seiner Beschreibung des Fahrverhaltens lobt der 45-Jährige unter anderem den Leistungssprung von 250 auf 350 kW: "Wir haben nun ein wirklich leistungsstarkes Fahrzeug. Das Auto fühlt sich jetzt wie ein richtiges Formelfahrzeug an, weil es leichter ist und mehr Leistung hat - nicht mehr wie ein Zwischending aus Monoposto und Prototyp." Es sei zudem sehr agil. "Ich habe das gleiche Gefühl wie damals in der Formula Nippon (heute: Super Formula) oder in der Formel 3." Tatsächlich dürfte sich das Gen3-Fahrzeug von den Rundenzeiten her irgendwo zwischen einem F2- und einem F3-Auto einsortieren.
Der Leistungsschub wird auch die Fahrer vor eine neue Herausforderung stellen: "Das Schwierigste ist wohl das Herausbeschleunigen aus einer Kurve, weil man jetzt deutlich mehr Drehmoment und Power hat", berichtet Treluyer. "Wenn du zu aggressiv bist und nicht sanft genug beschleunigst, kannst du überrascht werden (und dich drehen). Das war in der Vergangenheit nicht der Fall, denn die Leistung war geringer. Wenn du also aggressiv fahren willst, könnte die Traktion zum Problem werden."
Treluyer lobt revolutionäres Bremssystem: "Besser als eine normale Bremse"
Der wohl größte Unterschied zum aktuellen Formel-E-Auto liegt jedoch in der Bremstechnologie. Durch einen zusätzlichen Frontmotor wird künftig Bremsenergie mit einer Leistung von bis zu 600 kW rekuperiert, was das Fahrzeug zusätzlich verlangsamt. Das bedeutet, dass es keine hydraulischen Bremsen an den Hinterrädern mehr benötigt - ein Novum im Motorsport.
"Es gibt hinten keine Bremsen mehr, und wir müssen vieles neu entwickeln in Sachen Software und so weiter - eine Menge Arbeit für uns. Für den Motorsport ist das tatsächlich eine große Sache", bestätigt Treluyer und schwärmt vom neuen Konzept: "Ich war echt beeindruckt, denn beim Tritt auf das Pedal fühlte es sich wirklich wie eine normale Bremse an. Ich konnte es anfangs kaum glauben."
Das Gute daran sei außerdem, dass die Fahrer das neue Bremssystem aktiv nutzen können, um das Auto beim Bremsen besser zu kontrollieren. "Du kannst das Fahrzeug entsprechend einstellen, was es sehr interessant macht. Sie ist tatsächlich besser als eine normale Bremse, weil sie sehr konstant reagiert. Du musst nicht mehr mit der Temperatur spielen und für Kühlung sorgen, was echt gut ist."
"In der Vergangenheit war die Bremse in der Formel E immer ein bisschen problematisch, denn man musste sie genau im richtigen Fenster haben", erklärt Treluyer. Tatsächlich kam es in der Vergangenheit immer wieder zu folgenschweren Verbremsern, etwa durch Rom-Pole-Sitter Nick Cassidy. "Mit dem neuen System kann man nun richtig gut arbeiten. Wenn du das Auto ordentlich einstellst, ist es jetzt ziemlich einfach, die Bremsen beim Verlangsamen in eine Kurve hinein zu kontrollieren."
"Wirklich positiv überrascht" von neuem Hankook-Reifen
Mit dem Start der Gen3-Ära heißt die Formel E erstmals auch einen neuen Reifenhersteller willkommen. Hankook übernimmt von Gründungsmitglied Michelin und wird mindestens in den vier Gen3-Jahren alle Teams mit Reifen beliefern. Die Konstruktion des Einheitsgummis soll zu 26 Prozent aus nachhaltigen Materialien bestehen.
"Ehrlich gesagt war ich von Anfang an wirklich positiv überrascht und habe einen guten ersten Eindruck bekommen", lobt Treluyer nach seinem Test mit dem neuen Hankook-Reifen. Er sei auf Anhieb "genau im richtigen Arbeitsfenster" gewesen. "Ich hatte erwartet, erst einmal Schwierigkeiten mit ihm zu haben, weil ich bis dahin nichts über Hankook-Reifen wusste. Ich hatte einfach keine Ahnung, was ich erwarten sollte. Aber auch die Abnutzung war tatsächlich ganz gut."
Insgesamt zeigt sich der Routinier sehr zufrieden mit der bisherigen Entwicklung des neuen Gen3-Autos: "Jedes Mal, wenn wir eine kleine Sache am Setup verändert haben, hat das Auto wirklich gut darauf angesprochen. Es lässt sich gut fahren und auch gut einstellen. Natürlich können wir das Handling immer noch weiter verbessern und versuchen aktuell, ein paar Dinge zu optimieren. Aber wir sind mit der Entwicklung voll im Plan."
Die Testphase dauert indes weiter an. Im Frühjahr sollen alle eingeschriebenen Gen3-Hersteller schließlich ihre ersten Entwicklungsfahrzeuge erhalten. Der erste Renneinsatz steht in der übernächsten Saison auf dem Programm, die womöglich noch Ende 2022 beginnen könnte.
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