Das e-Formel.de Fahrer-Rating zum Santiago E-Prix: Bestnoten für Günther
Tobias Bluhm
Mit einem Knall kehrte die Formel E am vergangenen Wochenende aus ihrer Weihnachtspause zurück. In einem mitreißenden Rennen wurde Maximilian Günther (BMW) zum jüngsten Rennsieger in der Geschichte der Elektroserie. Wie unsere Redaktion die Leistung des Oberstdorfers einschätzt, und wer sonst zu den heimlichen "Stars" des Wochenendes zählt, stellen wir dir in unserer "Fahrer-Rating"-Serie vor.
Jeder Redakteur vergibt dazu nach einem E-Prix Punkte an seine Top-10-Fahrer des Wochenendes. 10 Punkte werden an den stärksten Piloten vergeben, 9 Punkte an den zweitbesten und so weiter. Zum besseren Verständnis errechnen wir zuletzt einen Durchschnitt aus allen subjektiven Einzelwertungen und erhalten somit ein Fahrer-Rating zwischen 1 und 10 Punkten.
Für das Fahrer-Rating nach dem Santiago E-Prix erhielten wir zudem wie immer Unterstützung von einem externen Medienkollegen. Diesmal hat uns Cedric Hanser, Betreiber der Schweizer Website 'Formula E Hub', seine Top-10-Fahrer geschickt. Merci beaucoup, Cedric!
Das e-Formel.de Fahrer-Rating zum Santiago E-Prix 2020
Als Maximilian Günther vor rund einem Jahr in sein erstes Formel-E-Rennen startete, wurde der Deutsche als "Zukunftstalent" für den Motorsport gehandelt. Diesen Status hat der 22-Jährige nun endgültig hinter sich gelassen: Günthers Zeit ist jetzt, nicht in der Zukunft.
Nach dem Santiago E-Prix 2019 wurde er von Dragon-Teamchef Jay Penske aufs Abstellgleis geschoben, um ihn durch den nur wenig erfolgreichen Felipe Nasr zu ersetzen. Nun, exakt ein Jahr später, gewann Günther für einen der größten deutschen Automobilhersteller sein erstes Formel-E-Rennen. Was für eine Geschichte!
Es ist der erste Triumph eines deutschen Fahrers seit Daniel Abts Siegesfahrt in Berlin 2018 - 609 Tage vor Günthers Chile-Sieg. Mit einem kühlen Kopf, einer gehörigen Portion Gelassenheit und unter guter Führung seines Teams hat die Formel E in Maximilian Günther einen gebührenden Sieger für den Santiago E-Prix gefunden. Das spiegelt sich auf in unserer Bewertung wieder: Erstmals seit dem Rom E-Prix 2019 (Mitch Evans) erreichte ein Fahrer in unserem Rating die maximale Punktzahl von 10.0.
Es hätte so einfach sein können: Nach einer sehr guten Qualifying-Runde startete Mitch Evans von der Pole-Position in den E-Prix. Auch am Start konnte sich der Neuseeländer behaupten. Im Anschluss fehlte jedoch einfach die Pace seines Jaguars. Egal ob es letztendlich der Energieverbrauch oder die hohen Temperaturen waren: Am Ende hat es für Evans einfach nicht gereicht. Platz 3 ist wohl das beste Ergebnis, auf das er hoffen konnte. Die insgesamt 19 Punkte, die er in Chile sammelte, könnten im Verlauf der Saison noch sehr hilfreich sein…
Kritik muss sich Jaguar lediglich für die aggressive Attack-Mode-Strategie gefallen lassen. In Führung liegend durchquerte Evans die Aktivierungszone gleich zu Beginn des E-Prix zweimal. Als dann wenig später Maximilian Günther herannahte und den 25-Jährigen angriff, kämpfte Evans selbstverschuldet mit stumpfen Waffen. Einen allzu großen Unterschied hätten die 35 Extra-Kilowatt allerdings wohl ohnehin nicht gemacht.
Er ist der König der Formel-E-Aufholjagden: Lucas di Grassi. Mit einigen beherzten Manövern, gutem Temperatur-Management und einem bisschen Glück kämpfte sich der Brasilianer aus der vorletzten Startreihe bis in die Top 10 vor. Mit Ausnahme seiner Qualifying-Runde, in der er nach dem Zeitverlust durch Oliver Rowlands Unfall direkt vor ihm zu viel Risiko einging, kann der Audi-Mann überaus zufrieden mit seiner Tagesleistung sein. Schafft er es in Mexiko auf einen besseren Startplatz, zählt di Grassi mit dieser Performance durchaus zu den Kandidaten für den Sieg.
Um Haaresbreite hätte es in Chile für Antonio Felix da Costa geklappt. Nach einer ebenfalls starken Aufholjagd von Startplatz 10 und guten Duellen mit den Mercedes- und Venturi-Fahrern fand sich der Portugiese kurz vor Rennende auf dem ersten Platz wieder. Nur eine überhitzte Batterie machte Felix da Costa einen Strich durch die Rechnung: Drei Kurven vor der karierten Flagge musste er Maximilian Günther ziehen lassen.
Der Techeetah-Mann zeigte in Santiago eine tadellose Leistung - mit Ausnahme einer Szene. Bei einem robusten Manöver gegen Günther, bei dem er zwischenzeitlich die Führung übernahm, schob er das Auto des Deutschen erkennbar von der Ideallinie. Der Kontakt war an der Grenze zum Erlaubten - vielleicht sogar schon einen Schritt zu weit. Dass Felix da Costa ohne eine Untersuchung der Rennleitung davonkam, hat er wohl nur dem Fakt zu verdanken, dass er den E-Prix nicht vor Günther beendet hat.
Auch noch nach dem dritten Saisonrennen ist es fast unmöglich zu beurteilen, wie konkurrenzfähig Mahindra in diesem Jahr ist. Während die Garagenhälfte von Jerome d'Ambrosio das gesamte Pech des indischen Rennstalls anzuziehen scheint, glänzte Pascal Wehrlein in Santiago mit einer beeindruckenden Qualifying-Runde, einem hervorragenden Start und einem guten Rennen. Zwar konnte er die Pace von Günther, Evans, Felix da Costa und de Vries (der nachträglich bestraft wurde) nicht halten. Platz 4 ist nach den zwei "Nullern" in Diriyya trotzdem ein respektables Ergebnis.
Nyck de Vries stellte in Santiago eindeutig unter Beweis, warum Mercedes ihn für die Formel E verpflichtet hat. Als Rookie war er in Chile nah dran, sein erstes Podium zu holen. Er ging sogar mit einem Last-Minute-Manöver auf der Zielgeraden noch an Mitch Evans vorbei. Eine Strafe wegen falscher Batterie-Kühlung seines Teams sorgte jedoch dafür, dass er nachträglich auf Platz 5 zurückgestuft wurde. Trotzdem: De Vries ist der bislang stärkste Rookie der Saison. Er hätte einen Platz auf dem Treppchen durchaus verdient gehabt. Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal.
Der erste Satz in Artikel 1 des Formel-E-Grundgesetzes würde wohl lauten: "Die konstante Leistung eines Fahrers ist für den Titelgewinn unausweichlich." Diesen Leitspruch scheint sich Mercedes-Werksfahrer Stoffel Vandoorne in diesem Jahr besonders zu Herzen zu nehmen. Auch wenn er in Santiago ein unauffälliges Rennen fuhr und erneut von seinem Teamkollegen im Qualifying geschlagen wurde, "hamsterte" er in Chile acht wichtige Punkte.
Platz 6 ist nach dem Doppel-Podium von Diriyya sicherlich weniger als erwartet. Ähnlich wie bei Evans gilt jedoch auch für den Belgier: Die Punkte, die Vandoorne in Chile sammelte, könnten am Ende des Jahres noch überaus wichtig werden. Mercedes bringt sich mehr und mehr in eine gute Position, um im Titelkampf eine Rolle zu spielen. Ehe wir aber schon jetzt über die Meisterschaft sprechen, sollten wir abwarten, was die nächsten Rennen bringen. Noch ist das Jahr lang. Vandoornes aktuelle Leistung darf Mercedes-Fans aber durchaus positiv gestimmt in Richtung Mexiko-Stadt blicken lassen.
Oliver Turvey ist die Überraschung des Santiago-Wochenendes. Der Brite zeigte in Chile eindrucksvoll, warum er im Paddock seit Jahren als der am meisten unterschätzte Fahrer gehandelt wird. Im eindeutig unterlegenen Nio-Renner in die Super-Pole einzuziehen, verschlug wohl den meisten Beobachtern der Formel E die Sprache. Schließlich macht Nio in diesem Jahr zu einem Großteil von der Technologie des Dragon-Antriebsstrangs der letzten Saison Gebrauch.
Noch dazu kam das operative Geschäft im chinesischen Team über den Sommer beinahe zum Stillstand. Das Qualifying-Ergebnis von Turvey ist somit ein überragender Erfolg. Das verspätete Weihnachtsgeschenk konnte der 32-Jährige zwar nicht in ein Punkte-Resultat verwandeln. Für Nio ist der Super-Pole-Einzug aber zum aktuellen Zeitpunkt fast mit einem Sieg gleichzustellen. Weiter so!
In der Anatomie ähnelte Jean-Eric Vergnes Rennen über weite Strecken jenem seines Teamkollegen Felix da Costa. Im Synchronflug machten die Techeetah-Partner Runde um Runde Boden auf die Führungsgruppe gut. Kurz vor Schluss fuhr Vergne sogar mit guten Chancen auf den Sieg auf Platz 3.
Dann allerdings der Schreck: Nach einigen Kontakten am Rennstart, bei denen die Frontschürze seines Wagens offenbar beschädigt wurde, brach wenige Runden vor Schluss "JEVs" Frontflügel ab. Beim Versuch, das auf dem Asphalt schleifende Teil an einer Wand abzuschlagen, kam es kurz darauf fast zum Unfall mit seinem Teamkollegen. Dieser regte sich (berechtigterweise) am Teamfunk über Vergne auf: "So etwas kann man als Werksfahrer doch nicht machen!" Wenig später gab der Franzose den E-Prix auf. Zweifelsohne macht die Rennpace Mut für Mexiko - doch im Championship-Modus ist Vergne noch nicht.
Es ist verlockend, die Venturi-Fahrer auch in der Formel-E-Saison 2019/20 als "Außenseiter" zu bezeichnen. Doch dank der Mercedes-Power im Heck und seines fahrerischen Talents fand sich Edoardo Mortara über weite Strecken des Rennsamstags auf den vorderen Rängen wieder. Erst nach dem teaminternen Clinch mit Felipe Massa baute seine Pace ab. Nach einem Kontakt mit Antonio Felix da Costa musste er das Rennen mit einer gebrochenen Aufhängung schließlich aufgeben. Dennoch: Der Schweizer zeigte ein beachtliches Rennen. Venturi ist in diesem Jahr keineswegs ein Außenseiter mehr, sondern durchaus ein Kandidat fürs Treppchen. Und vielleicht sogar - wenn das Glück mitspielt - für das oberste.
Foto: Shivraj Gohil / Spacesuit Media
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