Formel E

Gedankenspiele: Zeit für ein neues Qualifying-Format in der Formel E?

Tobias Bluhm

Tobias Bluhm

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Lange Wartezeiten, verschiedene Asphalttemperaturen, eine sich stets entwickelnde Strecke, unterschiedliche Grip-Verhältnisse: Für das derzeitige Qualifying-Format erntete die Formel E auch beim Berlin E-Prix 2020 eine Menge Kritik. Der Frust bei den Teams, die für ihren Erfolg Millionen-Budgets aufwenden, wächst und lässt die Rufe nach einem neuen Qualifying-System immer lauter werden. Doch wie könnte das aktuelle Format verbessert werden?

Derzeit findet das Zeitfahren um die Startpositionen in fünf Phasen statt. Dabei wird das Formel-E-Fahrerfeld für die ersten vier Qualifying-Abschnitte in Gruppen zu je sechs Piloten eingeteilt, die innerhalb von sechs Minuten eine schnelle Runde fahren können. Die Zuteilung der Fahrer ergibt sich aus dem Zwischenstand der Meisterschaft: Die besten sechs Piloten starten in der ersten Qualifying-Gruppe, die nächsten sechs im zweiten Quali-Abschnitt und so weiter.

Die sechs Fahrer, die nach allen vier Gruppen die besten Rundenzeiten setzen konnten, ziehen anschließend in die finale Session der Qualifikation ein, das sogenannte Super-Pole-Shoot-out. Während die Reihenfolge der Plätze 7 bis 24 eingefroren wird, werden die Rundenzeiten der Top 6 gelöscht. Diese Piloten müssen nun noch einmal eine Runde fahren, um die ersten drei Startreihen unter sich auszumachen.

Warum benachteiligt das aktuelle System die besten Fahrer?

Mit dem Super-Pole-System bleibt es in der Formel E bis zur letzten Sekunde spannend, denn jeder Fahrer der Top 6 könnte aufgrund der hohen Leistungsdichte in der Elektroserie den ersten Platz übernehmen. Der entscheidende Nachteil des aktuellen Formats ist jedoch, dass sich die Streckenbedingungen im Laufe des Qualifyings verändern.

Schließlich lagert sich in der Pause zwischen dem Freien Training und der Qualifikation jede Menge Schmutz auf der Strecke ab, beispielsweise Staub, Pollen, Laub oder ähnliches. Diejenigen Fahrer, die in der ersten Qualifying-Gruppe antreten, haben auf ihren Runden daher deutlich weniger Grip und "fegen" die Ideallinie zunächst einmal sauber. Somit finden die Piloten aus den Gruppen 2 bis 4 üblicherweise bessere Streckenbedingungen vor und sind lediglich dann im Nachteil, wenn während des Qualifyings Regen einsetzt. Auch unterschiedliche Streckentemperaturen in den einzelnen Qualifying-Abschnitten können das Fahrverhalten der Autos verändern.

Folglich können die Fahrer aus Qualifying-Gruppe 1 die Rennen oftmals nur aus den hinteren Startreihen aufnehmen. Insbesondere den großen Herstellerteams, die jährlich mehrere Millionen Euro in ihren Erfolg investieren, ist das Format seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. "Ich muss meinem Chef erklären, warum ich Budget brauche, um das Auto zu verbessern, wenn man das Qualifying auch auswürfeln könnte. Und er muss seinem Chef erklären, warum die schnellsten Fahrer und Autos ganz hinten starten", erklärt ein Mitarbeiter eines führenden Formel-E-Teams gegenüber 'e-Formel.de'. "Das muss unbedingt in der Sportlichen Arbeitsgruppe angesprochen werden."

Überblick: Die durchschnittlichen Startplätze der einzelnen Qualifying-Gruppen in Saison 6

 
Diriyya E-Prix (1/2)

Q1: Platz 15,0
Q2: Platz 9,0
Q3: Platz 7,2
Q4: Platz 18,3

 
Diriyya E-Prix (2/2)

Q1: Platz 13,2
Q2: Platz 7,8
Q3: Platz 12,2
Q4: Platz 16,8

 
Santiago E-Prix

Q1: Platz 16,5
Q2: Platz 13,0
Q3: Platz 8,8
Q4: Platz 11,7

 
Mexico City E-Prix

Q1: Platz 12,7
Q2: Platz 8,3
Q3: Platz 15,8
Q4: Platz 13,2

 

Marrakesch E-Prix

Q1: Platz 12,8
Q2: Platz 5,7
Q3: Platz 13,0
Q4: Platz 18,5

 

Berlin E-Prix (1/6)

Q1: Platz 12,0
Q2: Platz 8,8
Q3: Platz 12,5
Q4: Platz 16,7

 
Berlin E-Prix (2/6)

Q1: Platz 12,5
Q2: Platz 7,0
Q3: Platz 14,3
Q4: Platz 16,3

 

Berlin E-Prix (3/6)

Q1: Platz 12,7
Q2: Platz 8,2
Q3: Platz 12,2
Q4: Platz 17,0

 

Berlin E-Prix (4/6)

Q1: Platz 14,0
Q2: Platz 8,5
Q3: Platz 11,7
Q4: Platz 15,8

 
Berlin E-Prix (5/6)

Q1: Platz 19,8
Q2: Platz 12,3
Q3: Platz 10,3
Q4: Platz 7,5

 

Berlin E-Prix (6/6)

Q1: Platz 20,8
Q2: Platz 8,7
Q3: Platz 7,3
Q4: Platz 14,0

 

GESAMT SAISON 2019/20

Q1: Platz 14,6
Q2: Platz 8,8
Q3: Platz 11,4
Q4: Platz 15,1

Formel-1-System mit Leistungssteigerung eher keine Option

Im Motorsport gibt es zahlreiche Qualifying-Systeme, von denen sich das Super-Pole-Format der Formel E bislang klar abhebt. In der Formel 1 findet die Qualifikation derzeit in drei einzelnen Abschnitten statt, bei denen nach einer kurzen Zeitspanne jeweils die langsamsten Fahrer ausscheiden.

Das Format hat sich in den vergangenen Jahren bewährt und dürfte auch für die Verantwortlichen der Formel E auf den ersten Blick eine Option sein. Neben einer sukzessiven Verkürzung der verfügbaren Session-Zeit könnte die Elektroserie beispielsweise die maximale Motorenleistung zwischen den Abschnitten erhöhen, um für zusätzliche Spannung zu sorgen. Das erste Qualifying könnte dabei mit 200 kW, das zweite mit 235 kW und das letzte mit 250 kW ausgetragen werden, sodass die Rundenzeiten im Verlauf des Qualifyings immer schneller werden.

Das Formel-1-Format hat auf den Straßenkursen der Formel E allerdings einen entscheidenden Nachteil: Der Platz reicht nicht immer. Während sich in der "Königsklasse" 20 Autos Strecken mit bis zu sieben Kilometern Länge und weitläufigen Auslaufzonen teilen, haben die 24 Formel-E-Fahrer oftmals nur rund 2,5 Kilometer "Platz" auf einem engen Kurs im Zentrum einer Großstadt. Insbesondere im ersten Qualifying-Abschnitt, wenn alle Fahrer am Ende der Session zeitgleich eine Runde starten wollen, könnte es hier zu Rückstaus und unglücklichen Szenen kommen, in denen Autos den Startstrich zu spät überqueren - ähnlich wie im vorletzten Rennen in Berlin oder beim Italien Grand Prix 2019.

Formel-E-Qualifikation mit Lehren der Race at Home Challenge

Eine Überlegung könnte stattdessen eine Adaption des Rennformats aus der Formel-E-Simracing-Meisterschaft Race at Home Challenge wert sein, mit der die Elektroserie die "Corona-Zwangspause" in der abgelaufenen Saison überbrückte. Hierbei schied nach jeder Runde der jeweils letztplatzierte Fahrer aus, bis zuletzt nur noch zehn Piloten an den Rennen teilnahmen.

An einem vergleichbaren "Eliminierungsformat" versuchte sich die Formel 1 bereits im Jahr 2016. Da der spätere Pole-Sitter Lewis Hamilton dank einer schnellen Runde zu Beginn der Session in Australien jedoch schon bei der karierten Flagge nicht mehr im Auto saß, ruderte die Serie nach nur einem Rennen zurück und beschloss die Wiedereinführung des bekannten Drei-Gruppen-Formats.

Für Spannung könnten in der Formel E, analog zur aktuellen Super-Pole-Session, gelöschte Rundenzeiten sorgen. Dabei würden nicht nur nach einigen Minuten die langsamsten Fahrer ausscheiden, sondern auch die Zeiten der verbleibenden Fahrer gestrichen werden. Die Top-Piloten müssten somit mehrmals ihre riskanten Qualifying-Runden starten. Ein schlechter Startplatz wäre dann theoretisch nicht mehr abhängig von den Streckenbedingungen, sondern von der reinen Leistung der Fahrer. Doch auch bei diesem Format dürften viel Verkehr am Anfang der Session, Unterbrechungen aufgrund von Unfällen oder absichtliches Blockieren der Gegner für Probleme sorgen.

Warm-up & Super-Super-Pole

Eine weitere Methode, um für mehr Ausgeglichenheit im Formel-E-Qualifying zu sorgen, könnte ein kurzes Warm-up vor dem Beginn der Session darstellen. Hierbei müsste die FIA alle Fahrer verpflichten, unmittelbar vor dem Beginn des Qualifyings zwei langsame Runden mit begrenzter Leistung zu absolvieren und dabei die "Reinigungsarbeit" zu leisten, die bislang von Qualifying-Gruppe 1 übernommen wird.

Anschließend könnte die Qualifikation entweder nach dem bekannten Format oder im Rahmen einer "Super-Super-Pole" stattfinden, die im E-Sport besser als One-Shot-Qualifying bekannt ist. Dabei würden die Piloten nacheinander, zum Beispiel in umgekehrter Reihenfolge der Meisterschaftsstände auf ihre Runden starten. Da die Führenden in der Wertung erst zum Ende des Qualifyings ihre Runden beginnen, dürfte es dabei bis zuletzt spannend bleiben, ohne dass die Fahrer am Anfang der Session einen bedeutenden Nachteil aufgrund der Streckenevolution hätten. Ändern sich während des Qualifyings jedoch die Witterungsbedingungen, könnte es abermals Beschwerden über das Format geben…

Hoffnungsträger Qualifying-Rennen?

Bereits vor einigen Jahren geisterte der Begriff des Qualifying-Rennens durch das Fahrerlager der Formel E. Ein ähnliches Format wird derzeit in der Motorrad-Rennserie WSBK genutzt und könnte für noch mehr Action an den Renntagen der Elektroserie sorgen. Die Startaufstellung für das Quali-Rennen könnte sich dabei aus den kumulierten Ergebnissen des Freien Trainings ergeben, in denen alle Fahrer (zumindest in der Theorie) mindestens eine freie Runde mit 250 kW fahren können.

Klar ist, dass auch im Qualifying-Rennen das strategische Energiemanagement eine zentrale Rolle spielen müsste, denn fahren alle Piloten mit maximaler Leistung, wird das Überholen sehr schwer. Durch eine künstliche Begrenzung der verfügbaren Energie, ähnlich wie es schon jetzt bei Safety-Car- und Full-Course-Yellow-Phasen gehandhabt wird, müssten die Fahrer beispielsweise für ein rund 20-minütiges Rennen mit 25 Kilowattstunden Energie haushalten. Befürworter dieses Systems dürften sich über noch mehr Spannung am Renntag und zusätzliche Meisterschaftspunkte für die besten Fahrer freuen. Gegner würden wohl die mangelnde Reparaturzeit zwischen den einzelnen Läufen bemängeln.

Formel E plant (noch) keine Änderungen am Format

Es dürfte schwer werden, eine ideales Qualifying-Format für alle Teams in der Formel E zu finden. Während Fahrer am Ende der Meisterschaftswertung die Chancen des derzeitigen Systems begrüßen, stößt der Ansatz der Qualifikationsgruppen bei den Top-Mannschaften auf Ablehnung. Erst kürzlich kündigte Formel-E-Mitbegründer Alberto Longo bei 'The Race' allerdings an, dass die Serie im Moment keine Änderungen am Format anstrebe: "Sind (den Teams) in Berlin Fehler passiert, die von unserem System ermöglicht werden? Ja. Ist es genau das, was wir wollen? Ja."

Mit dem neuen Status als FIA-Weltmeisterschaft ab der Saison 2021 dürfte aber ebenfalls klar sein, dass der Druck für die Einführung eines ausgeglicheneren Formats größer wird - gerade auf Seiten der Hersteller. Ob sich die FIA diesem Thema annimmt, steht dabei aber noch in den Sternen. Im Regelwerk für das nächste Jahr ist derzeit keine Änderung am Ablauf der Qualifikation vorgesehen.

Foto: Shivraj Gohil / Spacesuit Media

VIDEO: Die besten Momente vom Formel-E-Finale in Berlin

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