Mahindra-Ingenieur Malte Senst exklusiv: "Es liegt am Ingenieur, wie schnell das Auto in Kurve 1 ankommt"
Tobias Wirtz

Lou Johnson / Mahindra Racing
Mahindra Racing war in der Formel-E-Saison 11 eine der großen Überraschungen. Die Mannschaft schloss die Saison auf Platz 4 der Teamwertung ab und erreichte somit das beste Ergebnis seit 2017/18, der letzten Saison in der Gen1-Ära. Im Vergleich zur Vorsaison wurde die Punkteausbeute mehr als verdreifacht, sodass man sich um insgesamt sechs Positionen verbessern konnte.
Die stark verbesserte Performance von Mahindra Racing hat mehrere Gründe: Neben einem neuen Antriebsstrang, den das Team nach dem Ende der Partnerschaft mit ZF Friedrichshafen nun vom US-Hersteller MTS Power Systems mit Sitz in Farmingdale, New York bezieht, verfügt der M11Electro über eine veränderte Hinterachsgeometrie und verbesserte Fahrdynamikregelsysteme. Besonders für letztere zuständig ist Malte Senst, mit dem wir uns exklusiv unterhalten konnten.
Wer bist du und was machst du in der Formel E?
Ich bin Malte, bin 28 Jahre alt und arbeite bei Mahindra Racing als Controls Performance Ingenieur. Diese Rolle ist sehr, sehr vielseitig. Auf der einen Seite bin ich für die Entwicklung der Fahrdynamik-Regelsysteme zuständig - Bremse, ABS bis hin zum Traktionssystem. Es geht auch darum, Performance-relevante Funktionen des Antriebsstrangs mit den Fahrern zu evaluieren. Das ist ein sehr vielseitiges Spektrum.
Seit wann bist du bei Mahindra?
Ich bin seit letztem Jahr beim Team. Davor war ich zwei Jahre bei ABT und habe den Kundensupport für Mahindra gemacht. Hier war ich Support-Ingenieur für den Antriebsstrang und die komplette VCU-Software. Da geht es nicht nur um die Bremse und die Traktion, sondern noch um viele andere Sachen, wie das Dashboard und die Diagnose. Das habe ich in den letzten beiden Jahren beim Kundenteam betreut. Generell arbeite ich aber seit 2022 für Mahindra.
Was bedeutet das konkret, am Beispiel der Bremse? Ich glaube, da tut man sich als Laie sehr schwer, das zu verstehen.
Bei der Bremse geht es darum, wie die Verteilung des Bremsmomentes zwischen dem Front- und dem Heckmotor ist. Dazu kommt, wie man zusätzlich die Reibbremse (an der Vorderachse) benutzen kann. Das ist spannend und von Strecke zu Strecke unterschiedlich.
"Ich sehe quasi das ganze Bild aus Software- und Fahrzeugebene"
Und hier arbeitest du mit dem Fahrer und dem Renningenieur zusammen?
Im Unterschied zum klassischen Performance-Ingenieur bin ich nicht direkt auf dem Auto. Wir haben je einen Renningenieur und einen Performance-Ingenieur pro Auto, die mit dem Fahrer ganz genau erarbeiten, wie das Fahrzeug von Kurve zu Kurve bremsen soll. Meine Rolle ist eher so, dass ich generell schaue, wie meine Kollegen diese Szene "bedaten". Ich bin gleichzeitig immer auch ein Ansprechpartner für die Performance-Ingenieure.
Mein Job ist es auch, komplexe Dinge aus diesem Bereich den Fahrern näher zu bringen und zu erklären - aber auch zu verstehen, was die Renningenieure oder die Performance-Ingenieure brauchen. Was sind die Anforderungen an die Software und wie kann man das umsetzen? Ich betrachte dabei auch die Limitierungen im Bereich der Legalität und die Maximalwerte an den Motoren. Der reine Performance-Ingenieur guckt nur, dass das Auto schnell um die Kurve fährt. Ich sehe hingegen quasi das ganze Bild auf Software- und Fahrzeugebene (lacht).
Also bist du auch dafür zuständig, die Erkenntnisse aus den Rennwochenenden mitzunehmen und im Bereich der Entwicklung mit einzubringen, damit ihr für das nächste Rennen besser aufgestellt seid?
Genau. Das Ziel ist es, Konsistenz zu haben: Beim Fahrzeug-Setup, aber auch bei der Bedatung. Es ist nicht so, dass wir bei jedem Rennen das Rad neu finden. Aber generell gibt es hier und da immer noch Punkte, wo man die Regelung anpassen kann - was man in den Daten aus den letzten Jahren oder in den Daten aus dem Simulator sieht. Das ist immer meine Aufgabe, diese Feinheiten vor dem Rennen anzupassen.
"Wir mussten quasi bei Null anfangen"
Mahindra hat vor der Saison den Lieferanten des Antriebsstrangs gewechselt, setzt also jetzt komplett andere Hardware ein. Konntet ihr da auf Software-Ebene überhaupt auf dem Gen3-Stand aufbauen?
Da es ein ganz neuer Lieferant ist, mussten wir quasi bei Null anfangen. Aber natürlich hatten wir auch Entwickler bei uns im Team, die schon Formel-E-Erfahrung hatten, auch mit dem alten Antrieb. Bei unserem neuen Antrieb hatten wir mit unseren Entwicklern mehr Freiheiten, die Software zu strukturieren, auch gemeinsam mit den Entwicklern auf der MTS-Seite.
Entwickelt ihr die Software denn alleine? Und was kommt da vom Hersteller?
Wir haben die Software spezifiziert und entwickelt, die auf Fahrzeugebene läuft. Also: Wie viel Leistung und wie viel Drehmoment rufen wir ab? Wann sind wir vom Drehmoment her limitiert, wann sind wir von der Leistung her limitiert, wann sind wir durch die Geschwindigkeit limitiert? Das steuern alles wir. Hier gibt es auch ein paar Funktionen mit der FIA-Legalität, die man von Herstellerseite aus regeln muss. Aber die ganzen Algorithmen für die Kommutierung der E-Maschine und die ganzen Low-Level-Applikationen, die sind vom Lieferanten des Antriebsstrangs.
Was macht den größten Teil deiner Arbeit aus, wenn du an die Rennstrecke kommst? Oder ist der durch die Arbeit im Simulator und die Vorbereitung schon erledigt?
Wir fahren in der Woche vor einem Rennen im Simulator und haben da auch mehrere Meetings. Hier geht es um das Fahrzeugsetup und darum, wie wir das Bremssystem aufsetzen. In Jakarta gibt es zum Beispiel sehr viel Combined Braking, das macht es sehr schwierig und sehr speziell, die Systeme darauf vorzubereiten. Aber das sehen wir schon im Simulator und können das auch dementsprechend bedaten.
Combined Braking bedeutet Bremsen und Lenken gleichzeitig?
Genau. Es geht darum, das gemeinsam mit dem Fahrer zu erarbeiten, auch weil das Formel-E-Auto generell kaum Abtrieb hat. Das ist nicht mit einem Formel-1-Auto zu vergleichen und macht es sehr, sehr schwierig, die Bremse in die Kurve mit reinzubringen. Aber das können wir mit den Systemen steuern und von Kurve zu Kurve ganz genau die Verteilung der Bremsmomente erarbeiten. Es gilt, die Konsistenz beizubehalten, weil es das ist, was uns stark macht: Wir haben eine gute Basis. Im Vergleich zu den letzten Jahren müssen wir nicht immer reagieren, sondern wir passen jetzt von Strecke zu Strecke nur sehr kleine Feinheiten an.
"Wir haben eine gute Basis"
Neu für diese Saison war der Allradantrieb, wo ihr auch eine Traktionskontrolle verwenden dürft. Wie ist das aus Ingenieurs-Sicht?
Das ist schon sehr, sehr spannend. Ich habe das Allradsystem mitentwickelt und war auch bei den ersten Tests dabei. Zum ersten Mal gefahren haben wir das mit Jordan King in Varano. Es ist schon cool, dass man da alle Freiheiten hat, die man im normalen Modus mit Hinterradantrieb nicht hat. Auch zum Beispiel beim Rennstart: Es liegt am Ingenieur, der die Bedatung macht, wie schnell das Auto in Kurve 1 ankommt. Der Fahrer steht voll auf dem Pedal, weil er eine Traktionskontrolle hat. Und wenn man dann beim Start jemanden überholt, weiß man, dass man seinen Job gut gemacht hat.
Welche Daten legt ihr dort als Ingenieure fest?
Wir entscheiden, welches Drehmoment vorne und hinten anliegt. Außerdem geben wir Sliptargets vor, also wie viel Schlupf wollen wir an den Achsen oder an den Rädern einstellen.
Was für Sensoren stehen euch zur Verfügung, um den Schlupf zu ermitteln?
Es gibt die Raddrehzahlsensoren von der FIA. Weil wir die Hinterachse selbst entwickeln, messen wir auch die Rotationsgeschwindigkeit des Motors. Und mit diesen ganzen Daten können wir den Schlupf bestimmen, also den Unterschied zwischen der Geschwindigkeit des Autos und der Räder. So sehen wir, was wir einstellen müssen. Da haben wir ganz verschiedene Regelkonzepte.
"Der Einheitsmotor hat uns vor große Probleme gestellt"
Wie viel schwieriger macht es, dass ihr an der Vorderachse einen Einheitsteil habt, wo ihr die Daten nur von den FIA-Sensoren bekommt? Gerade im Vergleich zur Hinterachse, wo ihr theoretisch alles machen könnt?
Das ist eine sehr gute Frage, die uns auch regelungstechnisch vor große Probleme gestellt hat, weil die beiden Achsen auch zeitversetzt sind. Der Einheitsmotor an der Vorderachse macht es generell schwierig - diese Daten bekommen wir später, im Bereich von Hundertstelsekunden. Der Motor selbst ist zwar gut, aber wenn man ihn selbst entwickeln würde, würde man möglicherweise einen ganz anderen Ansatz fahren.
Man muss einfach zusehen, dass man eine gute Regelgüte an der Vorderachse hat, dass man das gut modelliert und den Zeitabstand im Blick hat, wenn man irgendwelche Größen an die Vorderachse schickt. Und man muss auch die Limitierungen kennen, die sind natürlich anders als an der Hinterachse.
Wir haben in der Vergangenheit häufiger Strafen gesehen, weil zu viel Leistung abgerufen oder rekuperiert wurde. Wie kann das passieren?
Das fragen wir uns auch manchmal (lacht). Wenn man es mit den ersten Gen3-Saisons vergleicht, haben wir schon viele Schritte vorwärts gemacht. Ich glaube, wir haben in dieser Saison keine Strafe bekommen - da bin ich mir ziemlich sicher, weil ich auch immer derjenige bin, der verantwortlich ist. Wir sind zwei Ingenieure an der Strecke, die das Problem in einem solchen Fall lösen müssen. Es gibt eine maximale Leistung, die abgerufen werden darf: 350 oder 300 kW. Die FIA überwacht das Ganze. Es ist unser Ziel, dass wir immer maximal an das Limit gehen, was wir abrufen dürfen.
Bekommt man denn eine Strafe, wenn man nur einmal kurzzeitig über dieser Grenze liegt?
Im normalen Betrieb dürften maximal 300 Kilowatt abgerufen werden. Es ist nicht so, dass man disqualifiziert wird, wenn man einmal 300,1 Kilowatt abgerufen hat. Es gibt die Integratoren, die das, was man zu viel oder auch zu wenig abruft, aufsummieren. Erst dann, wenn diese aufsummierte Leistung einen Schwellenwert überschreitet, wird man disqualifiziert. Und das kann man nutzen, um ans Limit zu gehen. Wenn das trotzdem passiert, war die Regelgüte schlecht oder es ist irgendetwas aufgetreten, was man so vorher noch nicht kannte und so vorher noch nicht abgeschätzt hat.
"Wir benutzen das Reglement so, dass wir das Maximum herausholen"
Ihr arbeitet also tatsächlich so, dass ihr insgesamt mehr abruft, solange es den Schwellenwert nicht überschreitet?
Genau. Das ist auch keine Grauzone - wir gucken nicht, wie wir das Reglement umgehen können und wo da Lücken sind. Wir benutzen das technische Reglement der FIA so, dass wir das Maximum herausholen. Und wenn die FIA sagt, dass es zu viel war, gab es da auch in der Vergangenheit keine Diskussion. Natürlich ist das sehr unschön, wenn man disqualifiziert wird, im Rennen eine Durchfahrtsstrafe bekommt oder eine Geldstrafe bezahlen muss. Aber das ist so im Motorsport. Wir versuchen, in jedem Bereich ans Limit zu gehen.
Ist es technisch überhaupt möglich, diese feste Grenze von 300,00 Kilowatt zu haben, ohne jemals darüber zu kommen? Es gibt ja immer Schwankungen und auch die Sensoren sind möglicherweise ungenau?
Genau, man hat eine Messtoleranz des Sensors oder zum Beispiel ein Rauschen im Signal, was dazu führt, dass durch Messungenauigkeiten weniger oder mehr Leistung entsteht. Deswegen gibt es von der FIA diese Vorgaben, die auch mitbeinhalten, was technisch oder auf physikalischer Ebene passiert.
Nach drei Jahren Gen3, davon einem Jahr Gen3-Evo: An welchem Punkt ist denn aktuell noch das größte Potenzial, was Verbesserung und Weiterentwicklung angeht? Wo kann man da ansetzen oder reden wir über allerkleinste Feinheiten?
Es sind schon sehr, sehr kleine Feinheiten, die wir jetzt machen. Wir hatten einen großen Schub vom Gen3- zum Gen3-Evo-Auto, auch mit dem Allradantrieb. Aber im Grunde genommen geht es bei den aktuellen Entwicklungsschüben darum, das sehr genau mit den Fahrern zu evaluieren. Die Ingenieure können zwar sagen, was theoretisch gut ist, aber es gibt auch noch die beiden Fahrer, die das Auto fahren müssen. Es ist meine Rolle, zu verstehen, was wir hier brauchen. Die Entwicklung eines Rennwagens ist nie zu Ende - gerade wenn man auf Herstellerseite die Freiheiten hat, im Bereich Software für jedes Rennen etwas Neues zu bringen.
Jedes Rennen kommt tatsächlich eine neue Softwareversion?
Genau, es ändern sich aber auch gelegentlich die Herstellervorgaben. Darauf muss man natürlich auch reagieren. Aber generell prüfen wir nach dem Rennen, was wir anders machen können. Was war gut, was war schlecht? Wo müssen wir etwas verbessern? Das wird dann umgesetzt, im Simulator getestet, mit den Fahrern evaluiert und an die Rennstrecke gebracht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Ich danke auch.
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