Formel E

Meinung: Windschatten, Energiesparen & Racing? Die Krux der Formel E nach dem Sao Paulo E-Prix

Tobias Wirtz

Tobias Wirtz

Vandoorne-Slipstream-Sao-Paulo

Von reinen Beschleunigungsrennen abgesehen, geht es im Motorsport seit jeher darum, die zur Verfügung stehenden Ressourcen effizient zu nutzen, um als Erster im Ziel anzukommen. Das war insbesondere in der Formel E nie anders. Beim Sao Paulo E-Prix führte das nun jedoch reihenweise dazu, dass Fahrer ihre Konkurrenten absichtlich überholen ließen, hauptsächlich an der Spitze. Haben die extremen Windschattenspielchen von Brasilien den Motorsport ad absurdum geführt? Ein Kommentar.

"Ich hatte eigentlich eine perfekte Strategie: Ich wollte immer Zweiter sein - also in einer sicheren Position, in der ich trotzdem Energie sparen kann", lautete die Aussage von Antonio Felix da Costa bei 'ProSieben'. "Ich habe den Preis dafür bezahlt, das Rennen zu lange angeführt zu haben", twitterte hingegen Stoffel Vandoorne. Das Formel-E-Rennen in Sao Paulo war von Besonderheiten geprägt, die man so im Motorsport selten erlebt hat.

114 Überholmanöver, darunter elf Führungswechsel - in Monaco, wo es bei der Formel-E-Premiere auf dem Grand-Prix-Kurs 2021 ähnliche Zahlen gab, war das cool. In Sao Paulo nicht, weil das mit Racing nichts zu tun hatte.

Klar, in der Formel 1 müssen die Fahrer ebenfalls hausalten und die Reifen so nutzen, dass sie die beste Performance der Pneus abrufen, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass sie bis zum Boxenstopp oder Rennende nur moderat abbauen. Im Langstreckensport und bei Ovalrennen geht es oftmals darum, die Tankstopps so zu planen, dass man mit dem Treibstoff so gerade noch ins Ziel zu kommt und bloß nicht kurz vorher noch einmal nachtanken muss. Vollgas ist eher die Ausnahme als die Regel.

Das gilt auch in der Formel E: Hier ist Energiemanagement seit Bestehen der Serie das entscheidende Thema. Bei den Gen1-Autos war es die Taktik, den Akku des ersten Wagens möglichst leer zu fahren, um dann in der Box ins zweite Fahrzeug zu wechseln und damit den Rest des Rennens zu bestreiten. Ein damals notwendiger Aspekt, um mehr als 20 Minuten Rennsport bieten zu können. Dies erzeugte jedoch viel Ablehnung bei Motorsportpurist:innen und "Petrolheads".

Mit der Einführung der Gen2-Boliden verschob sich der taktische Fokus vom Fahrzeugwechsel auf den Attack-Mode. Energiesparen blieb jedoch weiterhin der zentrale Punkt. Bei der dritten Fahrzeuggeneration sollte Schnellladung als neues taktisches Element hinzukommen. Aus bekannten Gründen musste diese Saison jedoch zunächst ohne den Attack-Charge gestartet werden. Der Attack-Mode aus Gen2 wurde zwar vorerst beibehalten, hat aber viel von seinem früheren Einfluss auf die Rundenzeiten und damit auf das Racing verloren.

Felix da Costa: "Jetzt wird es einfach zu viel"

Auch wenn Daniel Abt am Samstag bei 'ProSieben' fast schon genervt schien von Eddie Mielkes Vergleichen mit Stehversuchen beim Bahnradsport: Der Vergleich passt, mehr noch als der mit dem Schach. Wenn es aber bei einem Autorennen nur noch darum geht, so lange wie möglich die Konkurrenten vor sich fahren zu lassen, um am Ende den entscheidenden taktischen Vorteil zu haben, führt das zu der Frage: Wie kann so etwas in Zukunft verhindert werden?

Denn gewollt sein kann das, was am Samstag in Sao Paulo passierte, nicht. Auch wenn sich die Formel E für die zahlreichen Überholmanöver selbst feiert. "Ich mag Windschattenfahren zwar, aber wenn du schnell bist, solltest du in der Lage sein, ein Rennen zu gewinnen. Und das war heute bei Stoffel nicht der Fall", beschreibt Antonio Felix da Costa bei 'The Race'. "Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Dieses Auto provoziert das ohnehin schon, aber jetzt wird es einfach zu viel."

Dass das Thema Windschatten in Brasilien eine große Rolle spielen würde, war allen Teams und Fahrern von Anfang an klar. Wie viel Energie ein Fahrer beim Hinterherfahren mit den Gen3-Boliden sparen kann, wurde bereits in Kapstadt deutlich: Antonio Felix da Costa hatte binnen vier Runden im Windschatten von Jean-Eric Vergne seinen Energienachteil in einen Vorteil umgewandelt und überholte den Franzosen in der vorletzten Runde.

Alte Kritik geht, neue Kritik kommt

Doch was kann die Formel E tun, um absurdes Vorbeiwinken wie in Sao Paulo künftig zu vermeiden? Leicht wird es jedenfalls nicht. Es wären wohl massive Eingriffe in das Streckendesign notwendig. Da der Luftwiderstand bei höheren Geschwindigkeiten exponentiell ansteigt, müssten die Topspeeds deutlich verringert werden. Anders als in der Formel 1 produzieren die Elektrorennwagen kaum nennenswerten Abtrieb über die Aerodynamik, sodass ein Fahrer auch in den Kurven ohne Probleme seinem Vordermann nah folgen und Energie sparen kann.

Mit Kapstadt und Sao Paulo hat die Serie in den letzten Wochen Rennen auf den beiden schnellsten Kursen in ihrer Geschichte ausgetragen. Von enttäuschend langsamen Rundenzeiten der Gen3-Boliden ist keine Rede mehr. Auch die Kritik an den harten Hankook-Reifen ist vorerst verstummt. Die Fahrer sind begeistert, die Topspeed-Statistiken beeindruckend und die Bilder spektakulär. Das Dilemma ist, dass dafür nun der Kampf um Platz 1 hinten runter fällt - der vielleicht älteste Grundsatz im Motorsport.

Weitere Schikanen auf den langen Geraden einzubauen, kann nicht die Lösung sein: Zu massiv waren in Sao Paulo bereits mit dem aktuellen Layout die Ziehharmonika-Effekte, die zu heiklen Situationen und Auffahrunfällen im eng beieinanderliegenden Feld führten. In Brasilien zumindest könnte die Lösung daher nur eine komplette Überarbeitung der Streckenführung sein, sollte dort im kommenden Jahr ein weiterer E-Prix stattfinden.

Hoffnung auf Gen3EVO, aber nicht auf Attack-Charge

Änderungen an diesem Dilemma, wie Twitter-Userin Sarah uns gefragt hat, wird es auch mit der Einführung des Attack-Charge in einigen Wochen wohl nicht geben: Das Problem wird die Formel E zumindest auf einigen Kursen weiter verfolgen. Dazu dürfte wohl auch Berlin zählen, London hingegen nicht.

Für Saison 11, die aller Voraussicht nach Ende 2024 starten wird, könnte allerdings ein Facelift der Fahrzeuge, genannt Gen3EVO, eingeführt werden. Anders als beim Gen1- und dem gestrichenen Update der Gen2-Boliden sollte hier der Fokus jedoch nicht auf der Optik, sondern auf einer Verbesserung der aerodynamischen Effizienz und der Verringerung des Luftwiderstandes liegen.

Ob es der Formel E wirklich gelingen kann, die Gen3-Boliden nur mit ein paar geänderten Karosserieteilen zu deutlich windschnittigeren Fahrzeugen werden zu lassen, ist jedoch vollkommen unklar.

"Business as usual" kann nicht die Prämisse sein

Eines ist jedoch gewiss: Bis zum Beginn von Saison 11 fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter. Zeit, die die Formel E eigentlich nicht hat. Zwar sind auch ohne Audi, BMW, Mercedes und Penske sechs Hersteller in der Formel E geblieben, aber Porsche hat sich bislang nur bis Saison 10 eingeschrieben. Auch wenn die Formel-1-Pläne der Zuffenhausener vorerst auf Eis liegen, ist nicht in Stein gemeißelt, dass man das Engagement in der Elektroserie verlängert wird. Und diese Entscheidung muss bald fallen.

Insbesondere die negativen Äußerungen der Porsche-Verantwortlichen vor Saisonbeginn darüber, den Attack-Charge mitten im Saisonverlauf einzuführen, sollten die Alarmglocken klingeln lassen und dafür sorgen, dass die Organisatoren der Rennserie Bedenken ernst nehmen. Gerüchten zufolge hat das negative Echo rund um das Energiechaos-Rennen in Valencia 2021 einst Einfluss auf die Überlegungen bei Mercedes gehabt, das Formel-E-Engagement über die Saison 2022 hinaus zu verlängern - was die Stuttgarter am Ende nicht getan haben. Selbstverständlich nicht nur deshalb. Trotzdem: Die Formel E sollte sich diesem Thema annehmen.

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