Formel E

Strafmaß-Diskussion in der Formel E: Eine Frage des Respekts?

Tobias Bluhm

Tobias Bluhm

Spätestens seit der öffentlichen Twitter-Auseinandersetzung zwischen Lucas di Grassi und Robin Frijns nach dem Sanya E-Prix treibt das Fahrerlager der Formel E eine Frage um wie keine zweite: Wo liegt in der Elektroserie das korrekte Strafmaß? Bereits in den vergangenen Wochen berichteten wir über die Debatte, bei der immer wieder auch die Rennleitung und die FIA-Rennkommissare im Zentrum der Kritik stehen. Dabei ist der Ursprung der Problematik möglicherweise an einer ganz anderen Stelle begründet: dem Respekt zwischen den Fahrern.

Der Streit um das Strafmaß erlebte in der Entscheidung über den Hongkong-Unfall zwischen Sam Bird und Andre Lotterer Anfang März seinen ersten Höhepunkt. Der Brite schlitzte dem in Führung liegenden DS-Fahrer damals kurz vor Rennende einen Reifen auf und nahm ihm dabei den sicher geglaubten Sieg aus den Händen. Bird wurde für sein Vergehen mit einer 5-Sekunden-Zeitstrafe belegt und als Sechster gewertet. DS protestierte und forderte eine härtere Strafe.

Seither brodelt es hinter den Kulissen der Formel E gewaltig. Nach einer 48-minütigen Anhörung beider Teams in Hongkong lehnten die Rennkommissare den Protest ab und titulierten, dass "die Folgen eines Vorfalls (…) für die Ermittlung des Strafmaßes nicht berücksichtigt (werden), sondern nur der Vorfall selbst". Dennoch hatte die Diskussion über Strafen in der Formel E gerade erst begonnen.

Ähnlicher Unfall, unterschiedliche Strafe

Denn während Bird für das Verursachen der Hongkong-Kollision mit einer 5-Sekunden-Strafe vergleichsweise milde davonkam, musste Sebastien Buemi im Sanya-Rennen im (in der Anatomie ähnlichen) Crash kurz vor Rennende mit Frijns, der später für das Twitter-Spektakel sorgen sollte, ganze zehn Sekunden einstecken.

Ein Mittelfeld-Unfall zwischen Lotterer und Antonio Felix da Costa in Santiago, bei dem der deutsche DS-Fahrer dem BMW-Piloten ebenfalls ins Heck rauschte und ihn in Jean-Eric Vergnes Fahrzeug schob, blieb hingegen komplett ungeahndet. Bei Pascal Wehrlein wurden indes für das unerlaubte Abkürzen einer Kurve in Mexiko fünf nachträgliche Sekunden auf seine Rennzeit addiert - die gleiche Strafe, die Bird für den schwerwiegenden Lotterer-Unfall bekam.

Die Liste der Beispiele für augenscheinlich unpassende Strafen geht weiter. Das unerlaubte Überqueren der Boxengasseneinfahrt von Jose Maria Lopez in Mexiko wurde mit einer 5-Sekunden-Zeitstrafe und zwei Strafpunkten sogar noch härter geahndet als der viel diskutierte Hongkong-Crash. Ebenfalls in Mexiko drehte Mitch Evans im Stadion Kontrahent Vergne. Das Manöver, das den Franzosen ans Ende des Feldes spülte, blieb gänzlich ungeahndet.

Fahrer fordern mehr Respekt auf der Rennstrecke

Abgesehen von der Frage nach der Härte der einzelnen Bestrafungen offenbaren die zahllosen Zwischenfälle in dieser Saison aber ein ganz anderes Themenfeld, das dem Strafen-Zirkus der Formel E zugrunde liegt. "Es ist eine Frage des Respekts", erklärt HWA-Mann Gary Paffett die Situation in einem Tweet. "Momentan gibt es davon nicht genügend. Das muss sich ändern."

Sein Fahrerkollege und Ex-DTM-Rivale Antonio Felix da Costa hakt ein: "Das Problem ist, dass die Fahrer wissen, womit sie bei der Rennleitung durchkommen. Dadurch ist der Respekt weg." Der Portugiese fordert, dass Rennleiter Scot Elkins und Co. in der Formel E ein Exempel statuieren sollten: "Einmal hat die FIA in der GP3 17 Fahrer in einem Rennen bestraft. Danach gab es so ein Problem nie wieder." Auch Rennsport-Veteran Felipe Massa (Venturi) twittert: "In dieser Meisterschaft gibt es zu wenig Respekt unter den Fahrern. Die FIA muss die richtigen Strafen verteilen, sonst lernen die Fahrer nie…"

Unsportlichkeit durch Gen2-Fahrzeug gefördert

Die Grundsatzdiskussion über eine zu harte Fahrweise in der Formel E ist in Teilen sicherlich auch auf das neue Gen2-Fahrzeug zurückzuführen. Mehr denn je können sich die Piloten in dieser Saison an den Autos ihrer Rivalen anlehnen, ohne dass sie einen zu großen Schaden befürchten müssen. Bestes Beispiel dafür ist Oliver Rowland, der sich mit einem robusten Manöver in Hongkong an Daniel Abt auf Platz 9 vorbeiquetschte.

Während in anderen namhaften Formelserien mutmaßlich mindestens ein Fahrer der besagten Kollision aufgrund von Beschädigungen am Auto ausgefallen wäre, fuhren beide Piloten nur mit geringen Kampfspuren weiter (Abt verlor bei der Kollision seinen rechten Seitenspiegel). "Die Jungs sind alle gute Fahrer und haben schnell verstanden, dass man keinen Preis bezahlt, wenn man einen Schaden am Auto mitnimmt", meint auch Audis DTM-Pilot und Marrakesch-Rookie-Testfahrer Jamie Green. "Man verliert durch eine Beschädigung keinen Abtrieb. So einfach ist das."

Ist der Formel E die Sportlichkeit abhandengekommen?

Die Frage nach dem richtigen Strafmaß kratzt also deutlich tiefer am Kern der Formel E. Ein Großteil des Fahrerlagers scheint sich einig zu sein: In vielerlei Hinsicht ist der Elektroserie in den letzten Monaten ein bisschen die Sportlichkeit abhandengekommen. Im engen Kampf um die Meisterschaft ist der Druck auf einzelne Fahrer dabei besonders groß, sodass sie unerbittlich um den Anschluss an die Spitze kämpfen und mit Härte in Zweikämpfe um jede Position schreiten.

Selbstverständlich überrascht es wenig, dass sich im "Haifischbecken Formel E", das in Teilen durchaus Ähnlichkeiten mit dem umkämpften Formel-1-Paddock annimmt, jeder Fahrer beweisen möchte und muss. Man denke an den wegen schlechten Ergebnissen nach nur sechs E-Prix gefeuerten Nelson Piquet jr. Noch dazu sind Leistungssportler in jeder Sportart bereit, die Grenzen des Erlaubten auszuloten, um zu gewinnen.

Unklare Grenzen des Regelwerks

Unsportlichkeit ist dabei noch nicht einmal eine direkte Folge dieses Konkurrenzdenkens. Auf lange Sicht könnte aus den harten Zweikämpfen aber Respektlosigkeit auf- und abseits der Strecke entstehen. Gerade in solchen Situationen liegt es, so der Grundtenor der Fahrer, an der Rennleitung, klare Grenzen aufzuzeigen. Gerade in der sonst so harmonischen Formel E.

Mit intransparenten Bestrafungen und einem unklaren Strafmaß ist dies den Rennkommissaren in der ersten Saisonhälfte aus der Sicht vieler nicht gelungen. Ohne Frage wird das Thema in diversen Zusammenkünften zwischen Rennleitung und Fahrern noch vor dem Rom E-Prix zur Sprache kommen. Somit bleibt die Hoffnung, dass die Kommissare mit klaren Rechtssprüchen schon in naher Zukunft nicht nur ihre angekratzte Integrität wiederherstellen können, sondern auch einen für alle Fahrer akzeptablen "gemeinsamen Nenner" finden. Denn zeigt die FIA den Fahrern nicht die eigentlich klaren Grenzen des Reglements auf, sehen Beobachter der Serie den sinkenden Respekt unter Piloten bereits jetzt als einzig mögliche Konsequenz.

Foto: Shivraj Gohil / Spacesuit Media

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