Formel E

Team-für-Team-Analyse zur Formel-E-Saison 2023: Kunden ärgern Hersteller & zerstörte Träume im Mittelfeld

Tobias Bluhm

Tobias Bluhm

Formula-E-Race-Start-Mexico-City-Gen3

Viel war neu vor der Formel-E-Saison 2023: Die Elektroserie brachte ein neues Fahrzeug mit mehr Leistung und neuen Reifen an den Start, Teams wechselten ihre Fahrer, Maserati, McLaren und ABT stiegen an der Stelle von Mercedes, Venturi und Techeetah ein. Die Änderungen brachten ein neues Kräfteverhältnis in der Serie mit sich - und führten letztlich zum ersten Meistertitel von Jake Dennis. Unsere Saisonanalyse.

Nach 564 Runden ist die Formel-E-Saison 2023 beendet. Sieben verschiedene Rennsieger gab es, zwölf der 22 Fahrer standen auf dem Podium - und mit Ausnahme von den Ersatzpiloten van der Linde (ABT Cupra), Beckmann (Andretti) und Merhi (Mahindra) sammelten alle Punkte. Doch auch abseits der Zahlen, Daten und Statistiken bot die abgelaufene Saison zahlreiche Geschichten. Wie das Jahr für die Rennställe lief, fassen wir dir in diesem Überblick zusammen.

Analyse: So lief die Formel-E-Saison 2023 für die einzelnen Teams

Platz 1 | Envision Racing | 304 Punkte

Rennsiege:
4

Pole-Pos.:
4

Führungsrunden:
148

Podien:
9

Neun Jahre hat es gedauert, doch nun ist Sylvain Filippi mit Envision Racing auf dem Gipfel des Elektro-Motorsports angekommen. Vor allem sein Schützling Nick Cassidy lief in der Saison 2023 zur Bestform auf: Vier Siege verbuchte der Neuseeländer, der bis zum vorletzten Rennen im Titelkampf der Elektroserie mitmischte. Neuzugang Sebastien Buemi hingegen hatte einige Startschwierigkeiten, durch die er im Teamkollegen-Vergleich von Cassidy geschlagen wurde (9:7 im Qualifying, 10:6 im Rennen - jeweils zugunsten Cassidys).

Für das in Silverstone beheimatete Team war die Entscheidung, vor der Saison von Audi- zu Jaguar-Antriebssträngen zu wechseln, goldrichtig. Im Entscheidungsrennen konnten Cassidy und Buemi ihre Reibereien von Berlin und den Crash in London ad acta legen und genügend Punkte sammeln, um die Saison vor der Werksmannschaft abzuschließen. Was für ein Erfolg!

FAZIT: Es hat etwas von David und Goliath, wie Envision Jaguar in der Saison 2023 bezwang. Möglich war dies dank einer guten Teamleistung. Herzlichen Glückwunsch!

Platz 2 | Jaguar TCS Racing | 292 Punkte

Rennsiege:
3

Pole-Pos.:
2

Führungsrunden:
119

Podien:
9

Mit Mitch Evans und Sam Bird hatte Jaguar auf dem Papier eine der stärksten Fahrerpaarungen in der Formel E 2023 - doch davon war in der Realität nur wenig zu spüren. Während Evans seine bislang beste Saison in der Elektroserie bestritt, kam Bird viel zu selten auf das Niveau seines neuseeländischen Teamkollegen. Die unnötigen Unfälle in Hyderabad und Jakarta, ebenfalls provoziert von Bird, kosteten den "Raubkatzen" wohl den Team-Titel.

Und trotzdem bleibt rückblickend viel Positives für Jaguar. Als einziger Hersteller konnten sie es mit dem Formel-E-"Powerhouse" Porsche aufnehmen und waren auf nicht wenigen Strecken sogar schneller und effizienter als die Deutschen. Mit etwas mehr Rückendeckung seines Teamkollegen hätte Evans wohl ein noch besseres Ergebnis verbuchen können. So bleibt ihm mal wieder nur die Option, "vielleicht im nächsten Jahr" auf den Titelgewinn zu hoffen.

FAZIT: Hinter Jaguar liegt die stärkste Saison der Teamgeschichte. Zu viele Fehler von Bird verhinderten jedoch ein besseres Abschneiden.

Platz 3 | Avalanche Andretti | 252 Punkte

Rennsiege:
2

Pole-Pos.:
2

Führungsrunden:
77

Podien:
11

Andrettis Saison 2023 war eine Geschichte mit zwei unterschiedlichen Hälften. Denn während Jake Dennis sein gesamtes Talent präsentierte, mit sagenhafter Konstanz Rekorde brach und vollkommen verdient Fahrer-Weltmeister wurde, sah Andre Lotterer im Teamkollegen-Vergleich kein Land. Das bittere Ergebnis: Der Deutsche sammelte nur 23 Punkte, Dennis hingegen 229. 91 Prozent aller Andretti-Punkte gingen auf das Konto des Briten.

Wäre Lotterer konkurrenzfähiger gewesen, hätte Roger Griffiths' Team womöglich auch um den Titel in der Teamwertung kämpfen können. Doch so oder so: Der US-Rennstall wird größtenteils zufrieden auf die abgelaufene Saison blicken.

FAZIT: Lotterers Formschwäche kostete Andretti ein besseres Ergebnis. Umso brillanter war dafür Jake Dennis, der überaus verdient Weltmeister ist!

Platz 4 | TAG Heuer Porsche | 107 Punkte

Rennsiege:
4

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
82

Podien:
6

Pascal Wehrlein startete stark in die Saison, ließ dann aber ebenfalls stark nach. Porsche baute für die Saison 2023 einen überaus effizienten Antriebsstrang, hatte im gesamten Jahr aber eine klare Schwäche: das Qualifying. Einzig Porsche und Nio 333 schafften es in der abgelaufenen Saison nicht auf die Pole-Position, Wehrlein nahm die Rennen durchschnittlich nur von Platz 9,9 auf. Für jemanden, der Weltmeister werden will, ist das zu wenig.

Mit enttäuschenden Ergebnissen im Einzelzeitfahren legte sich der Deutsche in der zweiten Jahreshälfte zu viele Steine in den Weg. Zwar gewann er nach den zwei Rennen von Diriyya auch noch in Jakarta, verlor auf der Zielgerade des Jahres aber seinen ganzen Glanz.

Antonio Felix da Costa hingegen schien gut in seinem neuen Umfeld zurechtzukommen. Der Portugiese gewann in Kapstadt nach einem überragenden Kampf mit seinem Ex-Teamkollegen Jean-Eric Vergne (DS Penske) und bestritt auch sonst gute Rennen, war im Qualifying allerdings sogar noch chancenloser als Wehrlein (durchschnittlicher Startplatz: 12,9).

FAZIT: Obwohl Porsche die statistisch beste Saison der Teamgeschichte absolvierte, dürfte die Enttäuschung über die verkorksten Qualifikationen groß sein. Da hilft auch das effizienteste Auto nichts.

Platz 5 | DS Penske | 163 Punkte

Rennsiege:
1

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
41

Podien:
3

Das Saisonresümee von Jean-Eric Vergne fällt schwer enttäuscht aus. "Ich bin dankbar, dass es jetzt vorbei ist", sagte er e-Formel.de nach dem Jahresende. "Wir müssen uns verbessern, denn aktuell sind wir einfach nicht gut genug". Wie er noch Platz 5 im Gesamtstand erreicht habe, sei nach der schwachen zweiten Saisonhälfte selbst für ihn ein Rätsel - dabei fing die Saison mit seinem Sieg in Hyderabad so gut an.

Doch auch Vergnes Teamkollege in der neu geschmiedeten Allianz von DS und Penske, Titelverteidiger Stoffel Vandoorne, kann mit seiner Saison nicht zufrieden sein. Abgesehen von einer mehr oder weniger überraschenden Pole-Position in Sao Paulo trat der Belgier selten ins Rampenlicht und schloss die Saison nur auf Gesamtrang 11 ab.

FAZIT: Alles in allem kein gutes Jahr für das DS-Team, das eigentlich mit dem Anspruch antrat, um die Weltmeisterschaft zu kämpfen.

Platz 6 | Maserati MSG Racing | 140 Punkte

Rennsiege:
1

Pole-Pos.:
2

Führungsrunden:
42

Podien:
4

Dank einer Sonderregelung und in Zusammenarbeit mit dem Team MSG, einst bekannt als Venturi, absolvierte Maserati ein solides, aber nicht vollends zufriedenstellendes erstes Jahr als Hersteller. Kaum ein Fahrerduo in der Formel E sorgte für derart viel "Kleinholz" wie Edoardo Mortara und Maximilian Günther. In London sollen dem Team sogar fast die Frontflügel-Ersatzteile ausgegangen sein.

Günther brillierte in Jakarta, als er jedes Zeitfahren gewann und lediglich in einem Rennen seinem Landsmann Pascal Wehrlein unterlag. Auch in Berlin und Rom verbuchte er Podien. Mortara fuhr hingegen nur in Italien und Großbritannien vorn mit, allerdings blieb ihm ein Top-3-Resultat im gesamten Saisonverlauf verwehrt. Für den Vizemeister 2022 ist das zu wenig - im nächsten Jahr muss er zu seiner Form aus den Vorjahren zurückfinden.

FAZIT: Neu-Teamchef James Rossiter darf zufrieden mit seiner ersten Saison als Boss eines Formel-E-Rennstalls sein. Doch der Sieg im Stellantis-internen Duell gegen DS wäre drin gewesen.

Platz 7 | Nissan | 95 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
18

Podien:
1

Seit Jahren hatte Tommaso Volpe auf die Einführung des Gen3-Regelwerks gewartet. Der Teamchef von Nissan konnte in den vergangenen Jahren die Leistungen seines Teams lediglich verwalten, statt sie zu gestalten, nachdem der Gen2-Doppelmotor 2019 verboten wurde und den Konstrukteur in der Antriebsentwicklung hinter Rivalen zurückwarf. Mit dem Gen3-Auto hatte Nissan endlich die Chance, wieder auf Augenhöhe mit seinen Kontrahenten zu gelangen. Vollends gelungen ist dies 2023 aber nicht.

Insbesondere der Saisonstart verlief für Nissan schwach. Das eigene Kundenteam McLaren fuhr der Werksmannschaft förmlich um die Nase, bis ein Software-Update in Monaco Nissan wieder den Anschluss verschaffte. Die Überarbeitung soll die Traktion beim Beschleunigen aus Kurven verbessert haben und dank einer neuen Software-Version in Rom noch mal wirksamer geworden sein. Das Resultat: Zwei Pole-Positions für Fenestraz (eine verlor er im Nachgang wegen eines Regelbruchs), ein Podium für Nato, Gesamtposition 7 in der Team-WM.

FAZIT: Der Trend zeigt bei Nissan nach oben - auch dank der Übernahme von e.dams vor der Saison. 2024 könnten unter Umständen sogar Rennsiege möglich sein.

Platz 8 | Neom McLaren | 88 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
2

Führungsrunden:
14

Podien:
1

Blickt man nur auf die Ergebnisse des ehemaligen Mercedes-Teams, dürfte Ian James enttäuscht auf 2023 zurückschauen. Doch es ist gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick wirkt: Die Papaya-Orangenen starteten mit einem Podium von Rene Rast in Diriyya in die Saison, während Jake Hughes ein beeindruckendes Rookie-Jahr absolvierte.

Insbesondere im letzten Teil der Saison konnte McLaren allerdings nur kaum überzeugen. Rast und Hughes wurden regelmäßig von den Markenkollegen von Nissan geschlagen und verloren sogar WM-Platz 7 an die Japaner:innen. Bezeichnend ist die folgende Statistik: McLaren erzielte 72 der insgesamt 88 Punkte in der ersten Jahreshälfte, nur 16 in der zweiten.

FAZIT: Stark angefangen, stark nachgelassen. Im nächsten Jahr muss McLaren, vielleicht auch mit einer neuen Fahrerpaarung, konstanter werden.

Platz 9 | Nio 333 Racing | 42 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
7

Podien:
0

Der Aufwärtstrend von Nio 333 setzte sich 2023 fort. Dan Ticktum und Sergio Sette Camara trieben das Team im vergangenen Jahr voran und sorgten dafür, dass sie inzwischen regelmäßig zu den Kandidaten für Top-10-Ergebnisse in den E-Prix zählen. Ticktum war vor allem im Qualifying stark, während Sette Camaras Stärken eher im Rennen zu liegen schienen.

FAZIT: Das Auto von Nio 333 ist längst nicht das effizienteste, doch mit einer guten Fahrerpaarung und Arbeitsmoral beschloss der Rennstall seine erfolgreichste Saison seit Jahren!

Platz 10 | Mahindra Racing | 41 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
11

Podien:
1

Während Nio 333 zu den Gewinnern des Gen3-Regelwerks zählt, ist Mahindra einer der großen Verlierer. Schon in der Entwicklung des M9Electro gab es Probleme mit Zulieferern, die auch das eigene Kundenteam ABT Cupra in die Bredouille brachten. Den Tiefpunkt der Saison erreichte das indisch-deutsche Gespann aber in Kapstadt, als die zu instabile Konstruktion der Hinterradaufhängungen für verbogene Querlenker sorgte und Mahindra aus Sicherheitsgründen alle Fahrzeuge aus dem Verkehr ziehen musste.

Mit der nachgebesserten Aufhängung war danach kaum mehr etwas zu holen. Mahindra fuhr dem Feld hinterher und schaffte es nur durch Glück in die Punkte. Der Abgang von Oliver Rowland mitten in der Saison, laut Medienberichten ausgelöst vom Frust über das Technikpaket, pointiert die Mahindra-Geschichte 2023. Rowlands Ersatzmann, Roberto Merhi, war genauso chancenlos wie der Brite selbst.

FAZIT: Lucas di Grassis Pole und Podium in Mexiko gehören zu den kurioseren Geschichten der Saison. Abgesehen davon erlebte Mahindra wenig Licht und viel Schatten.

Platz 11 | ABT Cupra | 21 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
6

Podien:
0

Die Rückkehr ins Formel-E-Fahrerlager hat sich der Rennstall um Teamchef Thomas Biermaier wohl anders vorgestellt. Pleiten, Pech und Pannen begleiteten die erste Phase der ABT-Saison: Aufgrund von Lieferproblemen war das Auto erst wenige Tage vor den Vorsaison-Testfahrten in Spanien einsatzbereit, wenige Wochen später brach sich Starfahrer Robin Frijns beim Saisonstart in Mexiko die Hand. Dann folgten das "Startverbot" in Kapstadt und jede Menge Frust über das fehlende Tempo des Wagens, den Frijns später sogar als "Shitbox" bezeichnete.

Einen Coup landete ABT dann aber doch noch: Bei regnerischen Bedingungen in Berlin schaffte es der Niederländer sensationell auf die Pole-Position! In der zweiten Jahreshälfte folgten für ihn und Nico Müller weitere Punkteergebnisse, unter anderem bei Müllers sechstem Platz in Rom. Doch mehr als der elfte und somit letzte Gesamtplatz war in diesem Jahr nicht für die "Äbte" drin.

FAZIT: Durch äußere Umstände, mutmaßlich vor allem das Motorenpaket, sah ABT in der Saison 2023 wenig Land. Da im nächsten Jahr baugleiche Antriebe eingesetzt werden, dürfte beim Team vor 2024 auch kaum Optimismus aufkeimen.

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