Formel E

Team-für-Team-Analyse zur Saisonhalbzeit 2022: Alles Mercedes, oder was?

Tobias Bluhm

Tobias Bluhm

Kopf-an-Kopf-Rennen-Mercedes-Venturi

Das Sonntagsrennen von Berlin markierte die Halbzeit der Formel-E-Saison 2022. Nach acht absolvierten Rennen führen Mercedes und Stoffel Vandoorne die Team- und Fahrerwertungen der Elektromeisterschaft an, wenngleich der Vorsprung auf ihre nächsten Verfolger nur wenige Zähler beträgt. Wie die elf Formel-E-Rennställe nach der ersten Jahreshälfte aufgestellt sind, liest du in unserer Team-für-Team-Halbzeitanalyse.

Seit dem Saisonauftakt in Saudi-Arabien absolvierte die Formel E insgesamt 280 Rennrunden, auch wenn nur neun Fahrer alle Umläufe des Jahres miterlebt haben. Die meisten Sessions gewann Edoardo Mortara (7), die meisten Qualifying-Duellteilnahmen sammelte Andre Lotterer (12), und die beste Durchschnittsposition im Rennen erzielte Stoffel Vandoorne (4,4).

Abgesehen von den Zahlen, Daten, Fakten und Statistiken spielten sich in der ersten Jahreshälfte jedoch einige weitere interessante Geschichten auf und neben der Formel-E-Strecke ab. Diese beleuchten wir in unserer traditionellen Halbzeitanalyse (zur Analyse 2021). Übrigens: Auch in unserem Formel-E-Podcast "ePod" haben wir die Ausgangslage zur Saisonhalbzeit 2022 analysiert. Die Episode findest du auf unserer Podcast-Seite - oder am Ende dieses Beitrags eingebettet.

Hackordnung in der Formel E zur Saisonhalbzeit 2022

Platz 1 | Mercedes-EQ | 176 Punkte

Rennsiege:
3

Pole-Pos.:
3

Führungsrunden:
117

Podien:
7

Hinter dem Mercedes-Rennstall liegt der erfolgreichste Saisonstart der Teamgeschichte: Nie sammelten die "Silberpfeile" in den ersten acht Rennen eines Jahres mehr Punkte als 2022. Maßgeblich verantwortlich dafür ist der Belgier Stoffel Vandoorne, der dank Podien in Saudi-Arabien, Rom, Monaco (als Sieger) und Berlin folgerichtig die WM-Wertung der Fahrer anführt.

Der amtierende Champion Nyck de Vries gewann beim Saisonstart und beim letzten Berlin-Rennen, tauchte in der Zwischenzeit jedoch in ein Performance-Tief ab. "Das war hart. Immer fehlte irgendeine Kleinigkeit, ohne dass wir grundlegend etwas falsch gemacht hätten", sagte der Niederländer nach dem Berlin E-Prix. "Wir konnten einfach keine guten Resultate einfahren, während die anderen davonzogen."

Dass das Tempo der Mercedes-Antriebe stimmt, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Bleiben de Vries und Vandoorne am Ball, dürften beide auch in der zweiten Hälfte des Jahres fest zum Favoritenkreis der Formel E gehören.

Platz 2 | ROKiT Venturi Racing | 146 Punkte

Rennsiege:
2

Pole-Pos.:
2

Führungsrunden:
80

Podien:
4

Auch wenn Teamchef Jerome d'Ambrosio nicht müde wird, die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Venturi und Mercedes zu betonen: Das kleine Team aus Monaco performt regelmäßig auf oder gar über dem Niveau des ressourcenstarken Motorenlieferanten. Das blieb in der ersten Jahreshälfte im Formel-E-Fahrerlager nicht unbemerkt. Edoardo Mortara untermauerte diesen Eindruck jüngst mit einem Sieg, einer Pole-Position und einem weiteren Podestplatz in Berlin - das erfolgreichste Formel-E-Wochenende seiner bisherigen Elektro-Laufbahn.

Die Weltklasse-Vorstellung des Schweizers in Tempelhof hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können, denn nur zwei Wochen zuvor hatte sich hinter den Kulissen des Teams eine handfeste Krise angebahnt: Im prestigeträchtigen Monaco E-Prix geriet Mortara mit seinem Teamkollegen Lucas di Grassi aneinander und fiel anschließend mit einem Reifenschaden aus. Im Debriefing am Montag nach dem E-Prix hatte die Teamleitung jede Menge zu tun, um die Wogen zu glätten

Vor allem angesichts des Vergleichs zum Vorjahr, als Venturi nach acht Rennen lediglich auf Rang 8 der Teamwertung stand, dürfte das Team überaus zufrieden mit der bisherigen Saison sein. In der ersten Jahreshälfte 2022 sammelte Venturi mehr Punkte als in jeder vorausgegangenen vollen Formel-E-Saison! Die Monegassen sind in diesem Jahr wohl das einzige Team, das es ernsthaft mit dem Mercedes-Werksteam aufnehmen kann.

Platz 3 | DS Techeetah | 137 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
12

Podien:
4

Jean-Eric Vergne ist in der bisherigen Saison das Zugpferd bei DS Techeetah. Der Franzose fährt 2022 auf einem ähnlichen Niveau wie in den Saisons 2017/18 und 2018/19, als er Formel-E-Meister wurde. Ein Sieg blieb "JEV" bislang zwar verwehrt, dafür sammelte er bereits vier Pokale für zweite und dritte Plätze bei den Rennen in Mexiko, Italien, Monaco und Deutschland.

Teamkollege Antonio Felix da Costa steht bislang im Schatten von Vergne, auch wenn der Portugiese ein regelmäßiger Gast in den Top 10 ist. Für beide Fahrer sind auch in diesem Jahr aus eigener Kraft Siege möglich - alles, was DS Techeetah dafür braucht, ist ein ruhiger, fehlerfreier Renntag. Hinter den Kulissen scheint der Umbau des Teams, verbunden mit der erwarteten Trennung von DS und Techeetah, bislang für zu viel Unruhe zu sorgen.

Platz 4 | Jaguar TCS Racing | 111 Punkte

Rennsiege:
2

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
31

Podien:
3

Seit Mitch Evans' überragendem Rom-Doppelsieg ist der Neuseeländer mittendrin im Titelkampf der Formel E. Sein Jaguar-Teamkollege Sam Bird steckt hingegen im wahrscheinlich größten Performance-Tief seiner Formel-E-Karriere. Der Brite wurde in der ersten Jahreshälfte von Ausfällen, falschen Setup-Entscheidungen, schlechten Qualifying-Ergebnissen und jeder Menge Pech geplagt.

Birds Talent in der Formel E ist unbestritten, allerdings erreichte er in den ersten acht Rennen des Jahres nur dreimal das Ziel innerhalb der Top 10. Während Evans um die WM kämpft, liegt Bird derzeit abgeschlagen auf Position 12 im Gesamtstand. Der 35-Jährige muss in der zweiten Jahreshälfte vor allem mentale Stärke aufbringen, um wieder auf das Niveau vergangener Jahre zurückzukehren.

Platz 5 | TAG Heuer Porsche | 110 Punkte

Rennsiege:
1

Pole-Pos.:
1

Führungsrunden:
28

Podien:
2

Porsche liegt auf Kurs für die bisher beste Saison des Formel-E-Werksteams. Nachdem die Weissacher im letzten Jahr ihren ersten Sieg am "grünen Tisch" verloren hatten, revanchierten sich Pascal Wehrlein und Andre Lotterer 2022 in Mexiko-Stadt für die Schmach von Puebla. Mit einer souveränen und in ihrer Konstanz kaum zu beschreibenden Fahrt zog das Duo im Autodromo Hermanos Rodriguez allen davon und düpierte den einen oder anderen Konkurrenten, der mit seinem Energieverbrauch auf ein kürzeres Rennen gepokert hatte.

Wenige Wochen später folgte der Tiefpunkt von Porsches Saison, als beide Fahrer in Monaco ausfielen. Zunächst schalteten sich alle Fahrzeugsysteme beim zu diesem Zeitpunkt Führenden Wehrlein ab, wenig später landete Lotterer nach einem Unfall mit Oliver Rowland in der Mauer. Und trotzdem: Porsche zählt in dieser Saison erstmals zum Kandidatenkreis für regelmäßige Rennsiege. Der Trend zeigt klar aufwärts.

Platz 6 | Envision Racing | 97 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
12

Podien:
3

Ähnlich wie bei Jaguar bietet sich bei Envision Racing zur Jahreshalbzeit ein klares Bild: Während mit Robin Frijns ein Fahrer Pokale sammelt - in Diriyya und Rom sogar für den zweiten Platz - kämpft der andere, Nick Cassidy, um den Anschluss zum Mittelfeld. Eine eindeutige Erklärung für diesen Performance-Unterschied gibt es nicht, doch auch das würde nichts daran ändern, dass Cassidy derzeit keine gute Figur macht.

Womöglich ist es die fehlende Audi-Unterstützung, die das Envision-Team Tempo kostet. Zur Wartung des Antriebsstrangs arbeiten weiterhin einige Ingenieure aus Neuburg in der Garage des Teams, darunter auch Ex-Audi-Projektleiter Tristan Summerscale. Aber: Weder in puncto "Manpower" noch bei der Datenverarbeitung - der Hightech-Simulator von Audi Sport wurde längst für andere Zwecke als die Elektroformel umgebaut - erhält Envision noch den Support der vergangenen Jahre.

Aus welchem Grund auch immer: Envision Racing war in der ersten Jahreshälfte 2022 nicht mehr der Erfolgskandidat vergangener Jahre. Ein Sieg für Frijns scheint weiterhin möglich, doch Cassidy muss seine Form deutlich nach oben schrauben.

Platz 7 | Avalanche Andretti Formula E | 30 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
0

Podien:
1

Als Einsatzteam des Formel-E-Werksprojekts von BMW kämpfte Andretti 2021 noch um die WM-Titel bei den Fahrern und Teams. In der ersten Hälfte der Saison 2022 rutschte der nun privat eingesetzte Rennstall allerdings ins Mittelfeld der Elektroformel ab. Ganz offensichtlich verloren Rookie Oliver Askew und Jake Dennis, der beim Diriyya E-Prix immerhin noch auf dem Podium stand, in der ersten Jahreshälfte den Anschluss an die Spitzengruppe der Formel E.

"Leider wissen wir auch nicht, woran es liegt - also können wir auch nichts beheben", sagte Dennis gegenüber 'e-Formel.de' nach dem Berlin E-Prix. "Jedes Mal, wenn wir uns Lösungen ausdenken, kommt ein neues Problem auf und hält uns davon ab, schnell zu sein." Optimistisch für die verbleibenden acht Rennen stimmt diese Einschätzung nicht.

Punkteergebnisse sind weiterhin möglich, schließlich ist vor allem Dennis bislang ein Garant für gute Qualifying-Resultate. Allerdings hat Andretti wohl schon jetzt den Anschluss an die Topteams der Serie verloren. Auf den nächstbesten Konkurrenten in der Wertung fehlen aktuell 67 Punkte.

Platz 8 | Mahindra Racing | 12 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
0

Podien:
0

Die Achillesferse von Mahindra ist in diesem Jahr die Konstanz. Bei acht Rennen verbuchten die Inder bislang sieben Ausfälle - so viele wie kein anderes Team. Besonders schmerzlich dürfte für Teamboss Dilbagh Gill der Fakt sein, dass seine Fahrer für viele ihrer DNF-Resultate selbst verantwortlich waren. In Diriyya scheiterte es an Unfällen (Rowland vs. Frijns) und Fahrfehlern (Sims konkurrenzlos in die Mauer), in Rom am miserablen Qualifying-Tempo und in Monaco an der Ungeduld (Rowland vs. Lotterer). Punkte kostete zudem eine Energie-Fehlberechnung in Mexiko.

Dass im Mahindra-Antrieb dennoch eine gewisse Rennpace schlummert, zeigte Rowland beim Berlin E-Prix. Der Brite verpasste seinem Team zur Jahreshalbzeit damit immerhin etwas Aufwind, den Mahindra bei den verbleibenden Rennen nutzen möchte. Dennoch gibt es noch viele Baustellen, die Gill, Rowland und Sims gemeinsam angehen müssen…

Platz 9 | Nissan e.dams | 12 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
0

Podien:
0

Nach dem Doppelmotor-Verbot von 2019 hat Nissan e.dams Probleme. Aus den seither entwickelten Aggregaten konnten die Nissan-Fahrer schon in den letzten Saisons nur selten gute Ergebnisse herauskitzeln. Die erhoffte - wenn auch nicht erwartete - Kehrtwende gelang Maximilian Günther und Sebastien Buemi auch 2022 bislang nicht.

Ursächlich für die bisher enttäuschende Saison sind in erster Linie die unzufriedenstellenden Qualifying-Ergebnisse. Die durchschnittlichen Startpositionen: 13 (Günther) und 17 (Buemi). Doch auch im Rennen ist Nissan nach wie vor deutlich zu ineffizient. Offenbar hat das auch die Unternehmensführung in Japan erkannt und das Team kürzlich vollständig von e.dams gekauft. Für die zweite Jahreshälfte sind gelegentliche Punkte möglich - mehr aber auch nicht.

Platz 10 | Nio 333 | 7 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
0

Podien:
0

Der Rom E-Prix war für Nio 333 ein Wendepunkt: Das britisch-chinesische Team schaffte es in Italien zum ersten Mal seit dem Buenos Aires E-Prix 2016 mit beiden Autos in die Top 10. Der Aufwärtstrend wird von neuen Arbeitsprozessen untermalt, die unter der Einsatzleitung von Russell O'Hagan eingeführt wurden.

Dass Dan Ticktum und Oliver Turvey nicht zufrieden mit mageren sieben Punkten aus acht Rennen sind, überrascht nicht. Aber: Immerhin sammelte das Duo damit schon jetzt sieben Zähler mehr als im Vorjahr.

Platz 11 | Dragon Penske Autosport | 0 Punkte

Rennsiege:
0

Pole-Pos.:
0

Führungsrunden:
0

Podien:
0

Antonio Giovinazzi wurde mit jeder Menge Vorschusslorbeeren in der Formel E empfangen. Der Italiener wird den hohen Erwartungen bislang aber nicht gerecht. "Es wird schwer, in die Punkte zu kommen. Wir brauchen ein verrücktes Rennen und versuchen es selbstverständlich weiter, aber unsere Pace ist momentan einfach nicht da", erläuterte er schon nach dem Monaco-Rennen gegenüber 'e-Formel.de'.

Der fehlende Erfolg von Giovinazzi liegt jedoch nicht nur an fehlendem Können hinter dem Lenkrad: Dragon hat 2022 ganz einfach das schlechteste Auto im Feld. Bei seinem Teamkollegen Sette Camara läuft es bisher kaum besser, auch wenn dieser mit seinem Einzug ins Knock-out-Qualifying von Berlin einen kleinen Achtungserfolg feiern konnte. Mit etwas Glück könnte Dragon die "rote Laterne" bis zum Jahresende noch an Nio 333 abgeben - Optimismus kommt angesichts der bisherigen Resultate aber nicht auf.

In der Formel-E-Weltmeisterschaft 2022 kann in den kommenden Wochen und Monaten noch jede Menge geschehen. Im Juni besucht der Elektro-Zirkus in Jakarta die erste vollkommen neue Strecke der Saison, ehe es über Stationen in Marokko, den USA und Großbritannien zum Finalwochenende nach Südkorea geht. Auch der Rundkurs in der Hauptstadt Seoul ist für alle Teams neu, was Nachzüglern eine gute Gelegenheit gibt, weitere Punkte zu sammeln.

Apropos Punkte: Im weiteren Verlauf des Jahres vergibt die Formel E noch bis zu 240 Punkte. Der WM-Kampf ist rein rechnerisch also noch vollkommen offen. Wir begleiten den Rest der Saison für dich wie gewohnt mit Livestreams und unserem Liveticker - darunter auch das nächste Rennen in Indonesien am 4. Juni.

Zurück

0 Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Bitte rechnen Sie 1 plus 4.
Advertisement