Formel E

"Vernissage des Motorsports" - Kommentar zum polarisierenden Gen3-Auto der Formel E

Timo Pape

Timo Pape

Formula-E-Gen3-Car-Front-Launch-Monaco-2022

Ist es ein Tarnkappenbomber? Nein. Ist es ein Polygon-Krieger aus Super Smash Bros.? Nein. Es ist das neue Gen3-Auto der Formel E. Beim radikalen Design setzte die Elektroserie auf ungewohnt eckige Formen, die polarisieren. Man kann den neuen Elektrorennwagen mögen oder nicht. Aber eines muss man der Formel E zugestehen: Sie hat sich konsequent auf ihren disruptiven Pioniergeist zurückbesonnen.

FANBOOST, Attack-Mode, blinkende LEDs, Allwetter-Profilreifen, fehlende Heckflügel, Autotausch, Rennen über den Jahreswechsel, - ach ja - und vollelektrisch. Die Formel E hat den Motorsport von Tag 1 an neu gedacht. Seit 2014 brachten Alejandro Agag und Co. viele verrückte Ideen auf die Rennstrecke, von denen inzwischen einige auch in anderen Rennserien zum guten Ton gehören. Wichtig war Agag seit jeher zu überraschen. Und eine gute Balance zwischen technologischer Sinnhaftigkeit und Unterhaltung.

An der Formel E dürfen sich die Geister scheiden. Das war schon immer so und gilt auch für das neue Gen3-Auto. Anstelle von Formelsport-typischen Linien und Formen kommt der neue Elektrorennwagen mit seinen Dreiecken und Kanten wie ein Motorsport-Kunstwerk auf einer Vernissage daher. Was uns der Künstler damit sagen wollte?

"Das Gen3-Auto zeigt die Innovation, das Leistungspotenzial und die Möglichkeiten der E-Auto-Technologie und verkörpert voll und ganz, wofür die Formel E steht", meint Jerome d'Ambrosio. Er ist zwar nicht der Künstler, aber immerhin seit Tag 1 in der Formel E dabei.

Recht hat er, findet auch Jaguar-Teamchef James Barclay. Der Südafrikaner spricht vom "fortschrittlichsten Elektro-Rennwagen, den wir je gesehen haben". Venturi-Pilot Edoardo Mortara pflichtet bei: "Das Auto hat ein ziemlich markantes Aussehen", ohne jedoch eine Wertung abzugeben.

Schön & hässlich, aber warum wieder freistehende Räder?

Persönlich bin ich hin- und hergerissen. Von vorn und gerade von oben finde ich das Gen3-Auto grässlich. Aus den meisten anderen Perspektiven hingegen gefällt es mir ganz schön gut. Vor allem in voller Fahrt durch den berühmten Tunnel in Monaco bei Nacht macht der Rennwagen was her (siehe Video unterhalb).

Video: Das neue Gen3-Auto der Formel E in Action

 

Aber so sehr geht es mir gar nicht um schön oder nicht schön. Und was ist eigentlich schön - nicht etwas Gelerntes? Egal, zurück zum Thema. Das neue Auto steht für etwas: den konsequenten Willen, etwas anders zu machen. Das habe ich immer an der Formel E geliebt, und deshalb liebe ich gewissermaßen auch das Gen3-Auto.

Kritisieren will ich dennoch: Warum, liebe Formel E, habt ihr die Vorderräder wieder freigestellt? Sicher, der Aufschrei war groß, als ihr sie mit Einführung des Gen2-Chassis eingehaust habt. Die Formel E dürfe sich nicht mehr Formel nennen, heiß es, weil ein signifikantes Merkmal eines Open-Wheelers nun mal offene Räder seien. Schon richtig. Aber es war doch sinnvoll mit Blick auf die Aerodynamik? Einen logischen Schritt weitergedacht und futuristisch - Formel E eben.

Tatsächlich habe sich die Formel E aus optischen Gründen für die Wiedereinführung der freistehenden Räder entschieden, erklärte Alessandra Ciliberti, Technische Projektleiterin, am Donnerstag. Mutmaßlich hat sich die Serie aber auch aus Kostengründen gegen die opulente Gen2-Frontpartie ausgesprochen, weil sie nach einem Fremdkontakt im Rennen gewöhnlich komplett ausgetauscht werden muss.

Technologischer Fortschritt "unglaublich"

Vollkommen indiskutabel ist aus meiner Sicht die Technologie an Bord des E-Boliden. "Die im Auto verwendete Technologie ist wirklich bahnbrechend", findet auch Lucas di Grassi. "In Gen 1 waren wir nicht in der Lage, eine ganze Renndistanz zu absolvieren. Demnächst können wir 40 Prozent des Energieverbrauchs während eines Rennens allein durch Rekuperation beim Bremsen erzeugen. Das ist unglaublich. Das Gen3-Auto dürfte einen neuen Maßstab für Hochleistungs-Elektrofahrzeuge setzen."

Das gilt allein schon für die Ladeleistung: Arbeiten Front- (250 kW) und Heckmotor (350 kW) zusammen, kann die neue Fahrzeugbatterie mit 600 kW geladen werden. Das ist für heutige Verhältnisse unfassbar viel. Zum Vergleich: Die schnellsten PKW-Ladesäulen schaffen derzeit 350 bis 365 kW. Mit der gleichen Leistung will die Formel E auch Schnellladeboxenstopps während der Rennen durchführen. So ganz sicher scheint das auch technischen Gründen allerdings noch nicht zu sein, wie 'e-Formel.de' jüngst erfahren hat. Das passiert wohl, wenn man Grenzen verschieben will.

Darüber hinaus stechen folgende Werte heraus: Das Gesamtgewicht wurde im Vergleich zum Gen2-Auto um 120 Kilogramm reduziert. Das der Batterie um mehr als 100 kg - bei nahezu gleicher Speicherkapazität. Gleichzeitig erhöht sich die Leistung des Antriebs um 40 Prozent. Chapeau, dreimal. "Ein gewaltiger Schritt nach vorn", meint auch Mortara. Mit 350 kW und einer theoretischen Spitzengeschwindigkeit von 320 km/h nähert sich die Formel E allmählich Regionen, in denen sie womöglich selbst von eingefleischten Petrolheads ernst genommen wird. Wobei - sie macht ja immer noch keinen Lärm.

Übersicht: Die technischen Daten des Gen3-Autos der Formel E

Kategorie Gen3 (ab 2023) Gen2 (2018-2022) Gen1 (2014-2018)
Höchstgeschwindigkeit 320 km/h 280 km/h 225 km/h
Leistung (Qualifying) 350 kW (476 PS) 250 kW (340 PS) 200 kW (272 PS)
Leistung (Rennen) 300 kW (408 PS) 220 kW (299 PS) 180 kW (245 PS)
Batterie-Kapazität (nutzbar) 51 kWh 52 kWh 28 kWh
max. Rekuperation 600 kW (v: 350 / h: 250) 250 kW 150 kW
Länge 5.000 mm 5.160 mm 5.000 mm
Breite 1.700 mm 1.770 mm 1.800 mm
Gesamtgewicht (inkl. Fahrer) 780 kg 900 kg 880 kg
Gewicht Batterie 284 kg 385 kg 230 kg

 

Auf alte Tugenden besonnen

Was bleibt also festzuhalten hinsichtlich der Zukunft des elektrischen Motorsports? Die Formel E hat aus meiner Sicht vieles richtig gemacht und ist mit ihrem Gen3-Auto zur eigenen Tugend zurückgekehrt, die sie einst in Windeseile wachsen ließ: Sie hatte mal wieder den Mut, die Dinge anders anzugehen, obwohl das vielen nicht gefallen wird.

Ein Audi Q7 ist im klassischen Sinne auch nicht schön oder ästhetisch, hat mir mal ein bekannter deutscher Auto-Designer gesagt. Aber er vermittelt etwas Bestimmtes. Ebenso der (dem Gen3-Auto gar nicht mal so unähnliche) Cybertruck von Elon Musk, den gefühlt jedes Kind kennt, obwohl er bislang nicht einmal auf der Straße fährt. Eine simple Konzeptvorstellung hat Teslas Image, disruptiv und ein bisschen verrückt zu sein, abermals nachhaltig geschärft.

"Ein bisschen Diskussion ist immer gut", findet Formel-E-CEO Jamie Reigle. Die Formel E tut auch aus meiner Sicht gut daran, einen ähnlichen Ansatz wie Tesla zu fahren. Denn sie will Aufmerksamkeit generieren und neue Fans erreichen. Den klassischen Motorsport-Nörgler wird sie ohnehin nicht überzeugen, egal wie das Auto aussieht.

Ich denke, das Gen3-Auto wird nächstes Jahr - allein schon aufgrund seiner Technologie an Bord - viele Kritiker verstummen lassen. Den aktuell weitläufigen Spott im Paddock von Monaco muss es aushalten. Die Menschen werden sich an den kantigen Look gewöhnen und irgendwann mögen, wie bei anderen Modetrends auch. Bleibt nur noch zu hoffen, dass die Formel E die Herausforderung mit den Schnellladeboxenstopps gemeistert bekommt, und dass sich die Formel-E-Teams schöne Lackierungen für 2023 einfallen lassen…

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1 Kommentare

HeadofOfflineSims ·

2023 Monaco Night Race confirmed?

Waer doch mal was anderes - aber vermutlich unrealistisch

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