Formel E in Chile: Die große Rennvorschau zum Santiago E-Prix 2020
Tobias Bluhm
Gut zwei Monate nach dem Diriyya E-Prix geht es in der Formel E endlich wieder los. Nach einer ungewöhnlich langen Winter- und Weihnachtspause startet die Elektroserie am kommenden Samstag (18. Januar) in Santiago zum dritten Meisterschaftslauf der Saison 2019/20. Eine veränderte Strecke in der chilenischen Hauptstadt verspricht zusätzliche Spannung.
Obwohl Diriyya uns bereits ein denkwürdiges Auftaktwochenende zur sechsten Saison bescherte, erwartet die Fahrer und Teams in Santiago de Chile der erste "typische" Formel-E-Kurs der Saison. Im Parque O'Higgins lauern Schikanen, enge Haarnadeln, und der charakteristische Highspeed-Linksbogen wird schneller denn je. Hinzu kommen die hohen Temperaturen in Chile, die Mensch und Maschine an ihre Grenzen bringen.
Die Teams haben die lange Pause seit dem Saisonauftakt genutzt, um in ihren Simulatoren ausgiebig Szenarien für das Rennen durchzuspielen. Unklar ist, ob Porsche und Mercedes nach ihren Überraschungspodien von Saudi-Arabien auch in Santiago bei der Musik sein können. Das Audi-Werksteam muss noch sein Potenzial zeigen - und auch Meister DS Techeetah hat sicherlich noch einige Pfeile im Köcher. Was du vor dem Santiago E-Prix wissen musst, erfährst du wie gewohnt in unserer umfassenden Rennvorschau.
Stadt, Land, Fluss…
Als Hauptstadt und politisches Zentrum von Chile ist Santiago die bedeutendste Stadt des Landes. Mit etwa acht Millionen Einwohnern lebt fast jeder zweite Chilene in Santiago oder im Ballungsraum der Metropole am Westhang der Anden. Santiago blickt auf eine ereignisreiche und kriegerische Geschichte zurück, die unter anderem die bewaffneten Konflikte zwischen spanischen Konquistadoren und Inka-Stämmen im 16. Jahrhundert einschließt.
Heute zieht Santiago als Kulturzentrum in Südamerika begnadete Künstler aus Musik, Theater und Malerei an. Neben zahllosen Museen finden sich auch Parks, Kathedralen, Universitäten und belebte Märkte in der Innenstadt wieder. Santiago ist zudem eine der wenigen Metropolen, von denen aus das Meer ebenso schnell erreichbar ist wie die Skigebiete des Landes.
In Bildern: Der Santiago E-Prix 2019
Fotos: Lou Johnson, Shivraj Gohil / Spacesuit Media
Was seit dem letzten Rennen passierte
Die Formel E fiel in der Zeit seit dem Diriyya E-Prix in einen tiefen Winterschlaf. Zwei große Meldungen gab es dennoch: Einerseits wird die Formel E mit dem Beginn der nächsten Saison (2020/21) offiziell zu einer FIA-Weltmeisterschaft. Damit steigt die Elektroserie in einen kleinen Kreis von internationalen Topserien auf und wird neben der Formel 1 zur einzigen Formelserie mit WM-Status.
Andererseits eröffnete die FIA die Ausschreibung für Konstrukteure des geplanten Gen3-Fahrzeugs, das ab Ende 2022 eingesetzt werden soll. Das neue Auto soll leichter, kleiner und schneller werden. Geplant ist zudem das Comeback von Boxenstopps. Allerdings sollen diese nicht in Form eines Fahrzeugwechsels zurückkehren, sondern den Fahrern die Möglichkeit geben, über ein Schnelladesystem zusätzliche Energie während des Rennens aufzutanken. Neu ist auch die geplante Einführung eines Frontmotors, über den die Piloten zusätzliche Energie rekuperieren sollen.
Formel E in Santiago de Chile: Der Zeitplan 2020 (MEZ)
- 12:00 - 12:45 Uhr - 1. Freies Training
- 14:15 - 14:45 Uhr - 2. Freies Training
- 16:00 - 17:05 Uhr - Qualifikation
- 20:03 - 20:50 Uhr - Rennen (45 min + 1 Runde)
Neue Kurven, neue Boxengasse, mehr Hochgeschwindigkeit: Die Strecke
Für das neue Jahrzehnt haben sich die Streckenplaner von Santiago einige Neuerungen ausgedacht. Zwar ähnelt die Kursführung weiterhin jener aus dem Vorjahr. Dennoch gibt es 2020 einige durchaus relevante Änderungen (zum Onboard-Video). So eröffnet beispielsweise fortan eine 90-Grad-Linkskurve die Runde, die die Fahrer (ähnlich wie auf dem Formel-1-Kurs in Kanada) vor dem ersten Kurvenkomplex ausbremst.
Nach Kurve 7 führt ein sehr langer Vollgas-Linksbogen die Piloten in Richtung des finalen Sektors. Die Schikane, die den Bogen im letzten Jahr noch teilte, wird in dieser Saison nicht mehr aufgebaut - ganz offensichtlich eine Konsequenz aus der Kritik an zu engen Schikanen wie in Rom oder Bern. Eine besondere Herausforderung wartet auch in Kurve 9 auf die Fahrer, die fortan in der Bremszone einlenken müssen. Hier wird das innere Rad entlastet, sodass sicherlich mit quietschenden Reifen und dem einen oder anderen Verbremser zu rechnen ist.
Zwei Haarnadelkurven beenden die 2,287 Kilometer lange Runde, allerdings in umgekehrter Reihenfolge zum Vorjahr. Erst geht es also rechtsherum, dann biegen die Piloten über eine Links-Haarnadel zurück auf die Start-/Zielgerade ab. Die Attack-Zone befindet sich weiterhin abseits der Ideallinie in Kurve 3. Zu guter Letzt hat sich auch die Position der Boxengasse verschoben. Diese liegt nun linksseitig der Hauptgeraden.
Kein Qualifying im Free-TV: Das Formel-E-Rennen von Santiago im TV & Livestream
Wie üblich können Fans der Elektroserie die Freien Trainings über die offiziellen Livestreams auf YouTube, Facebook und in der Formel-E-App verfolgen. Diese betten wir dir wie gewohnt auf e-Formel.de ein. Die Qualifikation wird von Eurosport übertragen - allerdings mit rund drei Stunden Verzögerung. Das Zeitfahren ist in Deutschland lediglich über den kostenpflichtigen Eurosport Player live zu empfangen. Pünktlich zum Rennstart um 20 Uhr gibt es jedoch zwei Wege, um den E-Prix zu verfolgen: Einerseits zeigt Eurosport 1 den Lauf im Fernsehen, andererseits bietet auch die ARD auf sportschau.de einen eigenen Livestream an.
>>> zur ausführlichen TV- und Livestream-Übersicht für das Formel-E-Rennen in Chile
Auch in der Schweiz wird das Rennen von Eurosport 1 gezeigt. Zudem läuft der E-Prix beim Bezahlsender MySports Pro. In Österreich gibt es leider keine Möglichkeit, den Lauf noch am Rennsamstag zu verfolgen. Der ORF zeigt am Sonntag um 11:50 Uhr und Montag um 19:45 Uhr lediglich einen 15-minütigen Highlights-Zusammenschnitt.
Als Alternative bietet e-Formel.de wie immer einen Live-Ticker zu allen Sessions an, der sich auch ideal als "Second Screen" für zusätzliche Informationen oder als Lösung für unterwegs eignet. Auch das Qualifying von Santiago kannst du auf diesem Weg in Echtzeit verfolgen.
Übersicht: Die Qualifying-Gruppen für Santiago
Das Qualifying von Santiago findet auch in diesem Jahr nach dem üblichen Format der Formel E statt. Die 24 Fahrer werden in insgesamt vier Gruppen eingeteilt, um zu gewährleisten, dass jeder Fahrer (zumindest in der Theorie) eine "freie Runde" auf dem zum Teil engen Kurs drehen kann. Die Gruppen werden anhand der aktuellen Meisterschaftspositionen der Piloten gebildet.
Da sich die Streckenbedingungen erfahrungsgemäß im Verlauf eines Qualifyings verbessern, starten die sechs letztplatzierten Piloten der Fahrerwertung in der letzten Gruppe. Sie haben somit die potenziell besten Bedingungen, um sich einen guten Startplatz zu sichern. Während die Plätze 7 bis 24 nach dem Gruppen-Qualifying eingefroren werden, kämpfen die Top 6 in einem anschließenden Shoot-out um die Super-Pole und die ersten drei Startreihen. Für Santiago ergeben sich folgende Gruppen.
Wetter: Neuauflage der Hitzeschlacht von 2019?
Während die Thermometer in Deutschland im Moment mit dem Gefrierpunkt ringen, herrschen auf weiten Teilen der Südhalbkugel hochsommerliche Temperaturen. Auch in Santiago ist mit schönstem Sonnenschein zu rechnen. Das Thermometer klettert im Verlauf des Tages voraussichtlich von 14 auf bis zu 34 Grad Celsius. Einzig einige leichte Windbrisen könnten für Abkühlung sorgen.
Der Wind könnte unter Umständen jedoch auch Ästchen, Laub und Staub auf die Strecke wehen, sodass sich die Streckenbedingungen zwischen den Sessions unter Umständen stark verändern können. Besonders in der Qualifikation dürfen wir also mit Taktik-Spielchen und abwartenden Fahrern rechnen.
Santiago: Fast Facts
- 2020 fährt die Formel E zum dritten Mal in Santiago. Bislang haben die Fahrer in der chilenischen Hauptstadt - wenn auch auf zwei unterschiedlichen Strecken - exakt 1.250 Rennrunden absolviert.
- Alexander Sims war einer der großen Sieger des Diriyya-Wochenendes. Beim Saisonauftakt in Saudi-Arabien sammelte der Brite insgesamt 35 Punkte. In der letzten Saison brauchte er zwölf Rennen, um so viele Zähler zu erreichen.
- Apropos Sims und Diriyya: In Saudi-Arabien gewann der BMW-Pilot mit dem drittgrößten Abstand, den es in der Geschichte des Gen2-Fahrzeugs gab. Dabei führte er beim Zieleinlauf nur 2,8 Sekunden vor seinem Teamkollegen Max Günther (der anschließend jedoch mit einer Zeitstrafe belegt wurde).
- Auch wenn die Zeitspanne zwischen dem zweiten und dritten Meisterschaftslauf dieser Saison lang erscheint: In der Saison 2017/18 gab es eine solche Lücke im Kalender schon einmal. Trennen Diriyya und Santiago in diesem Jahr 56 Tage, waren es zwischen Marrakesch und Buenos Aires damals sogar 98 Tage - 14 Wochen!
- Im Süden Chiles gibt es zahlreiche Brutpaare der dort einheimischen Magellan-Pinguine. Zwar sind die Brillenpinguine keine begeisterten Fußgänger, jedoch können sie ausgezeichnet schwimmen. Würde man den Kurs in Santiago fluten, könnten Magellan-Pinguine die Piste in rund 5:43 Minuten einmal umrunden.
Rückblick: Das Glutofen-Rennen in Santiago 2019
Der Santiago E-Prix 2019 gehörte in der vergangenen Saison zu den denkwürdigsten Rennen des Jahres. In der sengenden Hitze des chilenischen Hochsommers kämpften die Fahrer teils schon im Qualifying mit den hohen Temperaturen - und mit dem Asphalt. Der Untergrund war der Dauerbelastung durch die Hitze in Kombination mit den Rennfahrzeugen nämlich kaum gewachsen, sodass immer neue Stücke aus dem Asphalt herausbrachen.
Am Ende des Rennens glich insbesondere die Schikane in der Mitte des langen Linksbogens eher einer Kieselgrube als einer Rennstrecke. Dem bröckeligen Asphalt fiel unter anderem Nissan-Fahrer Sebastien Buemi zum Opfer, der nach einem Verbremser in die Mauer von Kurve 7 rauschte. Die Führung übernahm Sam Bird, der daraufhin rundenlang von Pascal Wehrlein (Mahindra) um die Strecke gejagt wurde.
Aus dem Sieg in Wehrleins erstem kompletten Formel-E-Rennen (in Marrakesch musste er sein Auto schon in der ersten Runde mit einem technischen Schaden abstellen) wurde jedoch nichts. Sein Auto überhitzte, sodass er Bird kurz vor der karierten Flagge ziehen lassen musste. Der Brite gewann das Rennen souverän, Wehrlein wurde vor seinem Landsmann Daniel Abt Zweiter.
VIDEO: Die Highlights des Santiago E-Prix 2019
Prognose: Das "deutsche Quartett" auf dem Prüfstand, offener Schlagabtausch im Mittelfeld
Das Santiago-Rennen 2020 könnte ein erster Wegweiser für den weiteren Verlauf der Saison werden. Besonders die deutschen Hersteller stehen in Chile auf dem Prüfstand: BMW, Mercedes und Porsche müssen zeigen, dass die beeindruckende Pace aus Diriyya keine Ausnahme war. Audi muss hingegen belegen, dass das Werksteam nicht hinter den Kunden-Rennstall Virgin zurückgefallen ist. Trotz des Podiums für Lucas di Grassi blieben die Ingolstädter in Saudi-Arabien leicht hinter den hohen Erwartungen zurück.
Doch auch bei den vermeintlichen Mittelfeld-Rennställen dürfte es spannend werden. Im Kampf um den Anschluss an die Spitzenmannschaften dürften sich Mahindra, Jaguar und Venturi quasi auf Augenhöhe begegnen. Venturi könnte als "Außenseiter" dank Mercedes-Power gute Chancen haben, in die oberen Punkteränge zu fahren. Ein heißer Tipp ist aber auch - wie immer - Nissan e.dams. Besonders Sebastien Buemi hat mit Santiago noch eine Rechnung aus dem letzten Jahr offen. Freuen wir uns auf ein hoffentlich spannendes erstes Formel-E-Rennwochenende des Jahres 2020!
Übrigens: Auch in diesem Jahr haben unsere Leser eine kostenlose Community-Tippspiel-Runde organisiert. Wer mitmachen möchte, hat noch bis zum Wochenende Zeit, seine Tipps abzugeben oder sich noch neu anzumelden!
Titelfoto: Shivraj Gohil / Spacesuit Media
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